Der Meister der Komposita ist wieder da!

Warum nur habe ich für die Lektüre dieses sehr lesenswerten Buches so lange gebraucht? Das hat mehrere Gründe. Erstens hat es über 500 Seiten, die sich nicht so mal schnell, schnell nebenher lesen lassen. Es handelt sich hier schließlich nicht um einen Feelgood-Roman, durch den man bienemajagleich von Seerose zu Seerose hüpft. Zweitens muss man ständig innehalten und sich die wunderbaren Komposita auf der Zunge zergehen lassen.

Komposita

Ich hatte brav, wenngleich nicht allzu gründlich meine Hausaufgaben gemacht und noch einmal meine Stuckrad-Barre-Bücher aus den späten Neunzigern aus dem Regal genommen und quergelesen, um mich daran zu erinnern, warum ich sie damals so gut fand. Schon dabei fielen mir die liebevoll komponierten Okkasionalismen auf. Und auch in Panikherz kommen bei Stuckrad-Barre wieder besonders formschöne, sprechende Exemplare zum Einsatz wie

Einsamkeitsvakuum, Goldknopfluxussimulationsuniformen, Spätwerkehrgeiz, Ernsthaftigkeitsaversion, Erinnerungsdienstleister, Momentherzlichkeit, Trümmerfrauenflachmann, Weltverständnismunition, Sozialpornographie, Fazitmassaker, Kalorienverbrauchsoptimierung, kopfinterne Ohrwurmjukebox, Querfeldeingeschnacke, Schubiduthemen, Tiefgründigkeitszwang, Problematisierungsobsession, Stegreif-Schlampigkeitskönig, Beachboyexegese, Gutelaunefolter, Authentizitätskitsch, Nichttotalfan, Übersprungsvertrautheit, Remmidemmikathedralen, Antizyklistengemeinde oder Wohllebensgeräusche.

Ich krieg mich gar nicht wieder ein. Jedes einzelne dieser Wortgebilde kann ohne weitere Erläuterung für sich allein stehen und spart im Text irgendwas zwischen einem Neben- und einem Absatz.

 

Abgesehen von diesen herrlichen Kondenzwörtern kann man sich beim Lesen von Panikherz auch wieder an Stuckrad-Barres präzisen Beschreibungen erquicken, die dem Leser das Erzählte anschaulich in einer Detailfreude aufzwingen, dass man sich hin und wieder ein bisschen weniger Bildschärfe wünschte. Eindrucksvoll ist, wie Stuckrad-Barre es versteht, der Beschreibung seiner Kindheit, Jugend und seines Aufstiegs zum gefeierten Popliteraten eine Leichtigkeit und einen Enthusiasmus mitzugeben, während die der Phase des Absturzes und Aus-dem-Tal-Krabbelns Hilflosigkeit und Chaos ausstrahlt. Der Erzählton der Anfangsjahre liest sich ganz anders als der der dunklen Jahre, aber auch als der, nachdem Stuckrad-Barre aus dem Sumpf wieder herausgefunden hat.

Udo Lindenberg

Um Stuckrad-Barres Gedankengängen einigermaßen folgen zu können, habe ich Zeit dafür aufgewendet, mir Udo-Lindenberg-Lieder anzuhören, denn ich kannte bisher kein einziges ganz. Dass ich die Begeisterung des Autors für Udos Musik jetzt nachvollziehen könnte, kann ich nicht sagen, aber ein interessanter Exkurs war es in jedem Fall und auch ein notwendiger, denn obgleich Lindenberg persönlich nur kurze Auftritte in diesem Buch hat, ist er die zentrale Figur, Dreh- und Angelpunkt in Stuckrad-Barres Leben.

 

Als Interim-Hamburgerin war mir natürlich bekannt, dass Lindenberg im Hotel Atlantic wohnt, aber dieses Fait divers, "Altrocker" und "Alkoholiker" ist schon alles, was mir zu ihm spontan eingefallen wäre. Nun habe ich ihn als warmherzigen, hilfsbereiten, ultratoleranten und loyalen Menschen kennengelernt, als den Retter, den Held in Stuckrad-Barres Elendsodyssee. Ganz erstaunlich.

Promis

Lindenberg ist nicht der einzige Promi, dem Stuckrad-Barre auf seinem Lebensweg begegnet und der in Panikherz auftaucht. Man könnte befürchten, dass so ein Promidéfilé - von Harald Schmidt über Helmut Dietl bis Bret Easton Ellis und Courtney Love -, auf die Dauer nervt, aber dem weiß Stuckrad-Barre zuvorzukommen, indem er auch hier auf ganz besonders einfühlsame und meist humorvolle Weise Beobachtungen alltäglicher Situationen und Gespräche niederschreibt, die diese Personen charakterisieren, so dass selbst der banalste Austausch beispielsweise über die Verfügbarkeit von Über+-Wagen außerhalb Los Angeles mit Thomas Gottschalk einen sehr sympathischen Einblick in das Leben dieser Personen gibt, die man sonst nur aus Klatsch- und Tratschspalten kennte. 

Drogen

Womit ich als so gut wie ewig Nüchterner schon immer Mühe hatte, weil es mir so völlig fern liegt, ist die Beschreibung von Drogenexzessen und Drogensucht. Seit Christiane F. habe ich kein Buch mehr gelesen, in denen diese beiden Themen Raum einnahmen. Trainspotting kenne ich zwar als Film, das Buch jedoch habe ich mir erspart. Und jetzt habe ich mich durch Panikherz gekämpft und es nicht bereut. Stuckrad-Barre hat ja zeitgleich an mehreren Fronten gekämpft. Nicht nur die Drogen hatten ihn im Griff, sondern auch die Sucht, möglichst dünn zu sein. Dass sein Körper und Geist die Kombination von jahrelanger Vergiftung und Fress-Brech-Anfällen und damit einhergehender Fehl- und Mangelernährung überlebt haben, kommt einem Wunder gleich.

Unbedingt Lesen

Muss man dieses Buch gelesen haben? Ich würde sagen: ja, muss man. Es ist ein hochinteressantes Selbstporträt seines Autors, das in präzisen Worten und völlig ohne Pathos und Geschwafel, dafür mit viel Verständnis für menschliche Schwächen einen Reife- und Genesungsprozess beschreibt und dabei keine Sekunde langweilt. 

 

Ich gebe zu, ich hatte - wahrscheinlich wegen meines Wegzugs aus Deutschland vor 13 Jahren - überhaupt nicht mitbekommen, dass Stuckrad-Barre jahrelang weg vom Fenster war. Dass ich von ihm in den letzten Jahren nichts gelesen habe, fiel mir erst auf, als ich auf im diesjährigen LitCologne-Programm die Panikherz-Veranstaltung entdeckte. Jetzt freue ich mich, dass ich diesen Phönix-aus-der-Asche-Moment miterleben darf und wünsche mir, dass Stuckrad-Barre noch viele Bücher schreiben möge.