Wegen der eisigen Temperaturen bekommen sie derzeit vorübergehend mehr mediale Aufmerksamkeit, doch im Alltag sind sie so gut wie unsichtbar und werden gerne mal vergessen: Obdachlose, Menschen ohne festen Wohnsitz, im süddeutschen Sprachgebrauch Sandler genannt. Ihre Lobby ist klein und unterfinanziert und kann jede Unterstützung brauchen. Der Sandler ist ein Buch, das Obdachlose sichtbar und ihren Alltag auch all denen begreiflich macht, die diese Bevölkerungsgruppe nur zu gerne schamhaft ausblenden. Sein Protagonist Karl Maurer lebt zudem im reichen München, wodurch der Kontrast zwischen Normalität und perpetuierter Ausnahmesituation noch krasser wird.
Karls Leben begann gutbürgerlich: Schule, Super-Abi, Studium, eine Stelle als Mathelehrer, Beziehung, Heirat, Tochter … doch ein verhängnisvoller Unfall beendet auf einen Schlag die Idylle. Karl überfährt einen kleinen Jungen, der zwischen geparkten Autos hervorgelaufen kam. Zwar wird er freigesprochen, doch zu viele in seinem Umfeld erinnern ihn ständig an den Vorfall und vor allem er selbst kann sich nicht vergeben und verfällt dem Alkohol. Von da an geht es klassisch bergab: Job weg, Wohnung weg, Frau und Kind weg. Endstation Straße.
An diesem Punkt, allerdings schon einige Jahre später, begegnen wir ihm und folgen ihm durch seinen Alltag zwischen Teestube, Essensausgaben, Notquartieren und Kleiderkammer. Wir begleiten ihn
durch den Tag, sehen ihm bei seinem systematischen Alkoholmissbrauch zu und belauschen seine Gespräche mit anderen Obdachlosen und Sozialarbeitern. Auch die schwierigen hygienischen
Lebensumstände und daraus resultierenden Gesundheitsproblem werden uns nicht erspart. Wie Planeten kreisen die Obdachlosen um dieselben Einrichtungen, die Nahrung, Kleidung und zeitlich begrenzt
einen Schlafplatz bieten, und wo man immer ein offenes Ohr und womöglich sogar Hilfe findet. Leider scheinen diese Planeten trotz der räumlichen Überschneidung in oft in parallelen Universen zu
kreisen, sodass sich ihre Umlaufbahnen nicht oft schneiden und das auch eher zufällig.
Die meisten Obdachlosen, die wir kennenlernen dürfen, sind Einzelgänger, so auch Karl und sein Freund Lenz. Sie mögen einander zwar, sehen sich aber nur gelegentlich, und leider hat die
Ziellosigkeit ihrer beider Existenz zur Folge, dass Karl im entscheidenden Moment Lenz´ Nachricht zu spät erhält und ihn nun nur noch tot auffindet. Zu seiner Überraschung stellt er fest, dass
Lenz aus freien Stücken, aus persönlicher Verzweiflung oder womöglich aufgrund einer psychischen Erkrankung auf der Straße lebte, denn er hinterlässt Karl den Schlüssel zu einer Wohnung im edlen
Bogenhausen. Jetzt beginnt Karls Ringen mit sich selbst: Kann er seine Selbstverachtung überwinden, um in ein geregeltes Leben in eigenen vier Wänden zurückzukehren?
Zeitgleich kommt Kurt aus der Haft frei, ein wandelndes Pulverfass mit extrem kurzer Lunte. Auch er suchte eine neue Bleibe. Statt seine Entlassung als Neuanfang zu nutzen, sieht er gar nicht
ein, warum er sich krummmachen sollte, um Geld zu verdienen. Da kommt es ihm nur allzu gelegen, dass er einen Penner auf einer Bank sitzen sieht, der in diesem noblen Stadtteil fehl am Platze
scheint und der einen Schlüssel in der Hand hält. Zudem kommt er ihm bekannt vor. Kurt legt sich auf die Lauer.
Der Sandler ist Markus Ostermairs Debüt und das kann man kaum glauben, so perfekt sind der Aufbau des Romas und die sprachliche Ausgestaltung. Abwechselnd folgen wir Karl und Kurt durch
ihren Tag und erhalten Einsicht in Lenz´ handschriftliche Aufzeichnungen, die Gesellschaftskritik und alternativer Gesellschaftsentwurf in einem sind. Dass Ostermaier während seines Zivildiensts
in der Bahnhofsmission und des jahrelangen ehrenamtlichen Einsatzes in der Obdachlosenhilfe genug Einblicke in den Alltag von Obdachlosen erhalten hat und entsprechend kenntnisreich darüber
schreiben kann, ist nachvollziehbar, aber auch für Kurt findet er eine individuelle Stimme und beschreibt das (Rotlicht-)Milieu, in dem dieser sich bewegt, fast genauso routiniert und lebensecht.
Auch Lenz´ Ergüsse, so unsortiert sie uns auch präsentiert werden, denn es handelt sich um eine Loseblattsammlung, ergeben ein stimmiges Bild des Verfassers.
Und als würden diese drei zentralen Figuren noch nicht reichen, werden uns auch noch die vielen anderen Obdachlosen, deren Weg Karl kreuzt, mehr oder weniger ausführlich und detailliert
beschrieben. Wir erfahren ihre Vorgeschichte, ihre Eigenheiten oder ihre Zukunftsträume und müssen uns eingestehen, dass diese unbekannten Wesen, an denen man auf der Straße achtlos vorbeieilt,
einfach nur Menschen sind. All das gelingt dem Autor, ohne auch nur einmal zu langweilen, auf die Tränendrüse zu drücken oder zu moralisieren in einer präzisen und bildlichen Sprache.
Nachdem man sich über 350 Seiten lang in das Leben dieser Personen vertieft hat, würde man sich wünschen, man könnte auch noch erfahren, wie es mit ihnen weitergeht, doch dann ist das Buch leider
zu Ende. Bei einem Debüt ist das ein sehr seltenes Erlebnis. Ein ganz wunderbarer Roman, der eine große Leserschaft verdient.