Rein Hoenderhoven, Mitte 20, verbringt seine Freizeit ausschließlich mit Gamen, genauer mit World of Warcraft. In dieser Phantasie-Welt ist er ein sehr erfolgreicher Druide, der im europaweiten Ranking ganz weit oben steht und den viele Gamer gerne in ihrem Team hätten. Doch er spielt schon seit langem mit derselben Gilde, unter der Leitung von Karin, einem todkranken Mädchen, das er im echten Leben noch nie gesehen hat, mit dem er sich online jedoch sehr gut versteht.
Seinen Lebensunterhalt verdient er, seitdem er sein Studium abgebrochen hat, mehr schlecht als recht als unmotivierter Helfer im Afghanenzwinger „Stardust“ seiner Mutter Vera, ihrer Leidenschaft, die sich immer mehr vom Hobby zum Beruf entwickelt, nur dass ihr der finanzielle Unterbau fehlt. Seine Schwester Adelien, die mit großer Begeisterung im Zwinger mitarbeitet, möchte zur Aufwertung und Etablierung des Zwingers als professionelles Unternehmen frisches, hochwertiges Blut in die Zucht bringen. Zu diesem Zweck soll die beste Hündin Gilly von dem herausragenden australischen Rüden Future Legend gedeckt werden. Doch dessen Eigentümer Hector Bonilla, der den Diamond-Dog-Zwinger mit eiserner Hand leitet, besteht darauf, die Hündin zu sehen, bevor er einer Deckung zustimmt.
Begeistert macht sich Adelien trotz der schwierigen finanziellen Lage daran, einen längeren Australienaufenthalt zu planen, bei dem sie neben dem Termin bei Bonilla an einer maximalen Anzahl Hundeausstellungen teilnehmen will, darunter die weltweit wichtigste, die Welthundeausstellung, die in jenem Jahr in Melbourne stattfindet. Sie hofft, dass sich auf diese Weise die Reise bezahlt machen wird, wenn nicht in Preisgeldern, dann zumindest durch den Nachwuchs aus der Deckung und Bekanntheit des Zwingers jenseits der Niederlande. Rein soll während der Zeit alleine die komplette Versorgung der restlichen achtzehn Hunde übernehmen.
Mutter und Tochter leben auf die Australienreise hin, doch kurz vor der Abreise hat Vera einen Unfall, sodass sie nicht mitkommen kann. Kurzerhand wird Rein zum Mitfahren verpflichtet, der eigentlich in dem Zeitraum zu einem Treffen bei Karin hatte gehen wollen, die die ganze World-of-Warcraft-Gilde zum gemeinsamen Gamen zu sich eingeladen hat. Zwar wehrt er sich anfänglich, doch um seiner Familie nichts über seine Gefühle für Karin erzählen zu müssen, die ihm selbst nicht ganz geheuer sind, sagt er zu.
Und so reisen Rein und Adelien nach Australien, beide mit seelischem Ballast, von dem der jeweils andere nichts weiß. Rein leidet darunter, dass er nicht weiß, ob er Karin seine Gefühle je wird gestehen können bzw. ob sie überhaupt noch leben wird, wenn er zurückkommt, Adelien leidet darunter, dass ihre heimlichen Bemühungen, mithilfe einer Hormonbehandlung schwanger zu werden, nicht fruchten wollen, und dass ihrem Mann Freek das Thema Kinder offenbar völlig gleichgültig ist.
In Australien angekommen, haben sie wenig Zeit, ihren Gedanken nachzuhängen. Schon bei der ersten Hundeausstellung schneiden die beiden mitgereisten Hunde, der Rüde Marquis und die Hündin Gilly, sehr gut ab. Außerdem lernen sie Juan Doringa kennen, Hector Bonilla wichtigsten Handler, der sich von den Stardust-Hunden beeindruckt zeigt. Auch auf allen weiteren Hundeausstellung gewinnen sie Preis nach Preis.
Je länger sie unterwegs sind, desto gespannter wird die Atmosphäre zwischen den Geschwistern. Rein traut sich nicht, Karin anzurufen und geht selbst nicht ans Telefon, wenn sie anruft. Als er einmal auf der World-of-Warcraft-Seite nachsieht, muss er feststellen, dass sie einen anderen Druiden in die Gilde aufgenommen hat. Rein ist verletzt und weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Adeliens Mann hat inzwischen durch einen unglücklichen Zufall erfahren, dass sie hinter seinem Rücken probiert, schwanger zu werden, und hat vorübergehend die Kommunikation eingestellt. Über diese Probleme sprechen die Geschwister in ihren schlaflosen Nächten nur am Rande, obwohl es sie maßgeblich beschäftigt.
Auf dem Weg von Hundeausstellung zu Hundeausstellung sehen sich die Geschwister auch ein wenig Australien an. Als Rein bei einem überfüllten Aussichtspunkt einen epileptischen Anfall bekommt, kommt ihnen Adam zu Hilfe, ein Wildnis-Coach, der sich ihnen anschließt, weil sein Auto den Geist aufgegeben hat. Adelien beginnt eine Affäre mit ihm. Rein findet ihn in erster Linie lästig, doch als fachkundige Informationsquelle erweist er sich als nützlich – und als Blitzableiter für die Spannungen zwischen den Geschwistern.
Bei der Welthundeausstellung in Melbourne lernt Adelien endlich Hector Bonilla kennen, dem ihre Hunde gut gefallen. Er stimmt einer Deckung zu, die allerdings in seinem Zwinger in Alice Springs stattfinden soll.
Eines Abends entdeckt Rein, dass Adelien die ganze Zeit hinter seinem Rücken über Skype Kontakt mit Karin gehabt hat. Erst Tage später entschließt er sich, Karin endlich anzurufen, doch er erreicht nur ihren Bruder, der ihr mitteilt, sie sei inzwischen in ein künstliches Koma versetzt worden, aus dem sie nicht wieder erwachen werde. Rein ist am Boden zerstört und wütend auf seine Schwester. Nach einem Eklat will er abreisen, doch Adelien lässt ihn nicht und so tritt er in Hungerstreik. Erst nach einigen Tagen kann Adam ihn dazu bewegen, wieder zu essen und am Leben teilzunehmen. Kurze Zeit später kommt es zu einem Streit mit Adam über ihre divergierenden Lebensanschauungen, der damit endet, dass sie ihn kurzerhand an der Raststätte zurücklassen.
Bei ihrem nächsten Stop führen die Geschwister ein kurzes klärendes Gespräch, sodass sie am folgenden Tag in verhältnismäßig harmonischer Stimmung weiterreisen. Sie erreichen den Zwinger von Hector Bonilla, der einer Festung ähnelt und von bewaffneten Bodyguards bewacht wird. Bonilla empfängt sie kühl, Juan scheint sich jedoch über ihren Besuch zu freuen. Als beim Abendessen das Gespräch auf das Geschäft kommt, muss Adelien zu ihrem Entsetzen feststellen, dass Bonilla einen anderen Deal im Kopf hat als sie. Statt wie bei früheren Deckungen eine Bezahlung zu akzeptieren, will er im Tausch für die Deckung Marquis bei sich behalten. Adelien geht zum Schein darauf ein, in der Hoffnung, dass ihr noch eine Idee kommen möge, wie sie aus diesem Geschäft doch noch als Gewinnerin hervorgehen kann.
Als sie sich zum Nachdenken auf die Toilette zurückziehen will, erscheint Juan und empfiehlt ihr, heute keine Geschäfte mit Bonilla zu machen, weil er schlecht gelaunt sei. Er zeigt ihr einen Haufen Hundekadaver und einen aufgehängten Rüden, der nicht mehr lange leben wird. Rein, der hiervon nichts weiß, hat in der Zwischenzeit beschlossen, dass er auf jeden Fall mit seiner Schwester und beiden Hunden nachts flüchten will. Mit Juans Hilfe befreit er den Hund aus dem Zwinger, den Bonilla ihm zugewiesen hatte. Auch Future Legend nimmt er mit, weil ein erster Deckungsversuch im Laufe des Abends fehlgeschlagen war.
Es beginnt eine wilde Verfolgungsjagd, die zugleich ein Wettlauf mit der Zeit ist, denn Rein und Adelien müssen ihr Flugzeug erreichen. Einen kurzen Aufenthalt in einer verlassenen Scheune, in der sie sich vor den Verfolgern verstecken, nutzt Rein dazu, die missglückte Deckung nachzuholen. Dann geht das Rennen weiter. Zwar haben sie die Verfolger abgeschüttelt, doch diese erwarten sie bereits am Flughafen. Kurz sieht es schlecht aus für die Geschwister, doch Rein hat die rettende Idee. Er bringt Future Legend zu den Bodyguards zurück. Als diese sich ihm bedrohlich nähern, lässt er den Windhund los und dieser rennt davon. Die Bodyguards müssen ihm wohl oder übel hinterherlaufen, und so können Rein und Adelien mit ihren Hunden wie geplant einchecken und nach Hause fliegen.
Beurteilung:
Underdog ist ein sehr gelungener Entwicklungsroman, der zum Ende hin eine überraschende Wendung zum Actionthriller nimmt. Dieser Wendung hätte die Geschichte wahrscheinlich nicht bedurft, um lesenswert zu sein. Im Gegenteil: Sie wirkt eher bizarr. Bis zum Eintreffen auf dem Gut des zwielichtigen Hector Bonilla ist die Geschichte geradlinig, glaubwürdig und realistisch. Dann hebt sie plötzlich völlig ab und wird erst auf dem Rückflug nach Europa wieder „eingefangen“. Auf diese Weise hat dieser letzte Teil fast Traumcharakter. Dazu passt allerdings gut, dass sich in Reins Gedanken in jenen Szenen seine World-of-Warcraft-Phantasiewelt mit den realen Geschehnissen mischt und ihm seine Game-Erfahrung beim Lösen realer Probleme hilft.
Der Roman ist in drei Teile gegliedert, die nach den drei Trimestern einer Schwangerschaft benannt sind. Zwar wird nicht recht deutlich, warum die Geschichte an den gewählten Stellen unterteilt ist, doch die Heimkehr der Protagonisten hat jedenfalls etwas von einer (Wieder-)Geburt, einer zweiten Chance, einem Neubeginn.
Besonders interessant ist die Erzählsituation. Durch den ständigen Perspektivwechsel der auktorialen Erzählinstanz wird der Text lebendig und der Leser hat das Gefühl, als würde ständig auf eine andere Person eingezoomt. Dies gibt der Geschichte etwas sehr Filmisches.
Zudem sind die Figuren sehr lebensnah. Der leicht autistische Rein ist trotz seiner Verschlossenheit ein sehr liebenswerter Protagonist, was seine Umwelt allerdings nicht merkt, weil er sehr zurückhaltend ist und das meiste mit sich selbst ausmacht. Auch Adelien, die eingangs als zickig, falsch und kapriziös charakterisiert wird, entpuppt sich als warme Persönlichkeit. Beide machen durch den gemeinsamen Roadtrip eine Entwicklung durch, die sie zum einen persönlich reifen und zum anderen wieder zusammenwachsen lässt.
Doch die Autorin hat nicht nur für ihre Hauptfiguren ein Herz, sondern schenkt auch allen anderen Figuren in ihrem Roman gebührend Aufmerksamkeit. So erfährt der Leser von der verhinderten Schauspielkarriere der Mutter, die diese durch die Auftritte auf Hundeausstellungen kompensiert, den neuen unternehmerischen Ambitionen des Vaters und der Kiting-Leidenschaft von Adeliens Mann und erhält einen sehr detaillierten Einblick in die sonderbare Welt der Hundezucht und der Hundeausstellungen, ohne dass es je langweilig würde. Auch die Reise durch Australien kann der Leser mit genießen.
Underdog ist ein sehr lesenswerter, humorvoller, nicht moralisierender Roman vom Fallen und Wiederaufstehen und der Bedeutung von erfolgreicher Kommunikation für zwischenmenschliche Beziehungen. Die treffenden, wunderschönen Beschreibungen, die völlig klischeefreie Wortwahl und die originellen Metaphern machen dieses Buch zu etwas Besonderem.
Die Autorin:
Elfie Tromp (*1985) studierte Psychologie und Dramaturgie. Sie arbeitet als Roman- und Theaterautorin, Kolumnistin, Performerin, Moderatorin und Gründerin der Zeitschrift „Strak“. Underdog, ihr zweiter Roman, ist für den BNG- und den Dioraphte-Literaturpreis nominiert. Ihr Debütroman Goeroe erschien 2013 bei Lebowski/Top Notch und wurde für den Preis des besten Rotterdamer Buchs nominiert Im selben Jahr gewann Tromp den VPRO Bagagedrager, einen Preis für junge Reisejournalisten.
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