Wilfried Wils, Mitte 90, blickt zurück auf sein Leben während der deutschen Besetzung Belgiens. Er hat sich durchgehend mit Meinungsäußerungen zurückgehalten und versucht, sich auf allen Seiten Freundschaften zu erhalten: Bei den Deutschen über den Liebhaber seiner Tante Emma, einen SS-Offizier, bei den Polizeikollegen und im Widerstand über seinen Freund, Kollegen und späteren Schwager Lode. Die aufgestaute Anspannung und Aggression hat er vor allem an Unschuldigen abreagiert. Ihm gelingt es dadurch, den Wahnsinn der Nazizeit zu überleben, auch wenn er gleichzeitig auf allen Seiten von denen angefeindet wird, die sein Doppelspiel durchschauen. Ganz zuletzt, als die Deutschen schon abgezogen sind, ermordet er einen Anwalt, der im großen Stil vom Abtransport der Juden profitiert und diesen Tod seines Erachtens verdient hat.
Wilfried schreibt all diese Erinnerungen für seinen Urenkel auf, von dem sich letzten Endes herausstellt, dass es ihn gar nicht gibt, nach dem Selbstmord seiner Enkelin Hilde, deren Abschiedsbrief nur vier Worte umfasste: „Mein Opa ist ein Dreckskerl.“ Lode, der während des Krieges ein loyaler Freund gewesen war, hatte ihr alles erzählt.
Inhalt:
Wilfried Wils, Mitte 90, denkt zurück an den Winter 1940/41. Damals traf er auf dem Weg zur Arbeit seinen Kollegen Lode, der genau wie er gerade in einem dreimonatigen Schnelldurchlauf zum Hilfspolizisten ausgebildet worden war. Noch bevor Wilfried und Lode ihren Arbeitsplatz erreichen, werden sie kurzerhand von deutschen Feldgendarmen abkommandiert, um angeblich einen Arbeitsverweigerer zu verhaften. Tatsächlich handelt es sich um die jüdische Familie Lizke, die Wilfried und sein Kollege zu einem zentralen Sammelpunkt bringen soll, damit sie aus der Stadt gebracht werden können.
1993 hatte Wilfried nach dem Verschwinden seiner Enkelin Hilde damit angefangen, seine Erinnerungen für seinen Urenkel aufzuschreiben, in der Hoffnung, dass dieser sich einmal dafür interessieren möge. Seine früheste Erinnerung ist sein Erwachen aus einem komatösen Zustand als Folge einer schweren Meningitis im Alter von fünf Jahren. Er erinnert sich an nichts und erkennt seine eigenen Eltern nicht. Aus dieser Zeit bleibt ihm ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber diesen Personen, die behaupten, seine Eltern zu sein und die Überzeugung, dass er eigentlich Angelo heiße.
Wilfried ist ein mittelmäßiger Schüler, nur seine Französischnoten lassen zu wünschen übrig, weshalb sein Vater ihm einen Nachhilfelehrer sucht, Felix Verhaffel, dem Wilfried schließlich seinen erfolgreichen Schulabschluss verdankt. Da zu diesem Zeitpunkt sein Vater seine Arbeit verliert, ist an ein Studium nicht zu denken. Als Mitte 1940 die Deutschen Belgien besetzen, lässt Wilfried sich schnell zum Hilfspolizisten ausbilden, um dem Arbeitsdienst der Nazis zu entgehen.
Während der Ausbildung lernt er Lode kennen, der ihn bald zu sich zum Essen einlädt. Bei dieser Gelegenheit lernt er Yvette kennen, Lodes Schwester, der er offensichtlich auf den ersten Blick gefällt. Lodes Vater interessiert vor allem Wilfrieds politische Gesinnung und die seiner Eltern. Er gibt sich damit zufrieden, dass Wilfrieds Vater zwar deutschgesinnt, aber nicht politisch aktiv ist.
Wieder zu Hause trifft Wilfried seine Tante Emma an, die spontan zu Besuch gekommen ist, um seiner Mutter mitzuteilen, dass sie einen neuen Geliebten habe, Gregor, einen SS-Offizier. Diese erschrickt, befürchtet sie doch, dass Emma, die als Hausmädchen bei einer wohlhabenden jüdischen Familie arbeitet, ihre Stelle verlieren könnte.
Die Antwerpener versuchen, im Rahmen des Möglichen wieder zur Normalität überzugehen. Sie gewöhnen sich an die Flaggen überall in der Stadt, die Omnipräsenz von Uniformen, die Soldaten in den Kneipen, die deutschen Filme, die jetzt anstatt der Hollywoodfilme gezeigt werden, die Hetze der „Volkswering“ gegen die Juden.
Im Frühjahr 1941 trifft Wilfried Verhaffel im Kino wieder, wo dieser ihm seinen Bekannten Omer Verschueren vorstellt, einen erfolgreichen Anwalt. Nach dem Film, einer Pseudo-Dokumentation über „die wahre Natur der Juden“, zieht das Publikum mit dem Schlachtruf „Juden raus!“ durch die Straßen, wirft Scheiben ein und terrorisiert jüdische Mitbürger. Wilfried ist erst wie versteinert, alarmiert dann aber seine Kollegen. Er läuft dem Mob hinterher und sieht, wie Omer, Verhaffel und andere die Synagoge schwer beschädigen und Gebetsbücher und Thorarollen vernichten.
Allgemein bemüht man sich so zu tun, als ob das Leben wie gewohnt weitergehe. Das kulturelle Leben blüht, wenngleich unter anderen Vorzeichen. Wilfried und Yvette gehen zu einer Matinee eines Sängers, der bis vor kurzem spanische Lieder sang und jetzt, dem deutschen Publikum zuliebe, auf Deutsch singt. Dort treffen sie Wilfrieds früheren Klassenkameraden Karel, der inzwischen bei der Waffen-SS ist und sich freiwillig für den Russlandfeldzug gemeldet hat. Er fordert Yvette zum Tanz auf, woraufhin Lode wütend das Lokal verlässt.
Meist patrouilliert Wilfried mit seinem älteren Kollegen Jean, der den Ruf hat, gerne Leute zu drangsalieren. Als sie die Information erhalten, dass die Deutschen von ihren eigenen Leuten Parolen an die Wände schreiben lassen werden, fühlt er sich besonders angespornt und macht sie auf die Suche nach solchen Schmierfinken. Tatsächlich ertappen sie eine Gruppe auf frischer Tat. Jean beschimpft und erniedrigt sie, während Wilfried unangenehm berührt danebensteht. An seinem nächsten Arbeitstag muss er feststellen, dass Jean vom Sicherheitsdienst abgeholt wurde und seine Kollegen davon ausgehen, dass er ihn verraten hat. Ab jenem Vorfall wird Wilfried von allen Kollegen bis auf Lode gemieden. Wilfried ist hierüber zwar unglücklich, hadert aber gleichzeitig sowieso mit seinem Job als Polizist, weil ihm eigentlich eine Dichterkarriere vorgeschwebt hatte.
Ihm wird ein neuer Kollege zugeteilt, Gaston. Bei einem ihrer Rundgänge finden sie eine Leiche. Das Mordopfer, Clement Bruynooghe, war dafür bekannt, für den Sicherheitsdienst gearbeitet zu haben. Die Anhänger der Volkswering machen sich zur Verteidigung bereit, allen voran Wilfrieds Kollege, der Judenhasser Eduard Vingerhoets. Die Polizei gibt vor, mit der Klärung des Falles beschäftigt zu sein, während sie ihm Grunde machtlos und deshalb untätig ist. Als Wilfried Verschaffel einmal in die Stammkneipe der Volkswering-Anhänger, De Witte Merel (Die Weiße Amsel), begleitet, prahlt dort sein Kollege Eduard Vingerhoets damit, dass sie den Mörder von Clement Bruynooghe auf eigene Faust zur Strecke gebracht hätten.
Kurze Zeit später werden die Juden verpflichtet, eine gelben Stern auf der Kleidung zu tragen. Es kommt zu großangelegten Räumungen jüdischer Häuser. Die Bewohner werden abtransportiert. Wilfried wird von einem Kollegen als Verräter beschimpft, weil er Freunde bei der Volkswering hat. Von der Gegenseite wird er verdächtigt, Juden gewarnt zu haben.
Vor der nächsten Razzia verweigert er anfänglich den Gehorsam. Lode steht ihm zur Seite, doch die Mehrheit der Kollegen befürchtet bei Weigerung schlimme Konsequenzen. Letzten Endes wird der Einsatz wie geplant durchgeführt. Lode, der sich standhaft geweigert hat, mitzumachen, wird jetzt von allen geschnitten, während Wilfried wieder dazugehört.
Nur Eduard Vingerhoets verdächtigt ihn noch immer, ein Judenfreund zu sein, und droht ihm, ihn bei der nächsten Gelegenheit bei den Deutschen anzuschwärzen. Beim nächsten sonntäglichen Mittagessen bei Lode und Yvette, zu dem Wilfried jetzt immer erwartet wird, warnt Lode ihn vor Vingerhoets. Allerdings ist dieses Gespräch im Grunde nur ein Vorwand, während Lode versucht, Wilfried zu verführen. Dieser weist ihn zurück.
Tante Emma wohnt inzwischen mit ihrem Liebhaber Gregor zusammen in dem Haus, in dem sie früher angestellt war, weil die Eigentümer verhaftet worden sind. Sie lädt ihre Schwester mit Familie zum Kaffee ein, um ihnen Gregor vorzustellen. Wilfried erkennt zu seinem Entsetzen, dass er der SS-Offizier ist, dem er kürzlich in der Weißen Amsel vorgestellt wurde. Doch Gregor lässt sich nicht anmerken, dass er Wilfried schon einmal gesehen hat.
Bei seinem nächsten Besuch in der Weißen Amsel zeigt Verhaffel sich beeindruckt davon, dass Wilfried so gute Beziehungen zur SS unterhält. Wilfried hat kaum die Kneipe verlassen, da wird er von Verhaffel zurückgerufen, weil Vingerhoets soeben vor der Tür erschossen wurde. Der Mörder wird nicht gefasst.
Eine Woche später ergeht eine Weisung des Bürgermeisters und Oberstaatsanwalts, dass das die Beihilfe zur Verhaftung von Arbeitsverweigerern ab sofort eingestellt werden müsse. Wilfried und seine Kollegen sind sehr erleichtert, während den Vorgesetzten der Schweiß ausbricht, weil sie befürchten, für vergangene Einsätze belangt zu werden.
Eines Tages passt Lode Wilfried nach der Arbeit ab und bringt ihn zum Versteck von Chaim Lizke. Er hofft, Wilfried überreden zu können, ihm mit der Versorgung Lizkes zu helfen. Widerwillig hilft dieser ihm. Die Versorgung von Lizke belastet Wilfried und auch die Freundschaft zu Lode, hegt Wilfried doch den Verdacht, dass Lizke für sein Unterkommen bezahlt.
Kurz darauf wird Wilfried von Männern des Sicherheitsdienstes abgeholt und ins HQ des Sicherheitsdienstes gebracht. Die Sorge, entdeckt worden zu sein, erweist sich als unbegründet. Gregor hat ihn auf diese Weise vorladen lassen, um ihm „anzubieten“, als Vertrauensmann für ihn zu arbeiten. Lode hat hierfür nur bedingt Verständnis. Er nennt den Raubzug der Nazis unter dem Deckmantel der religiösen Differenzen „organisierten Diebstahl“. Wilfried beneidet ihn um seine klare Haltung.
Yvette, mit der Wilfried inzwischen fest zusammen ist, möchte gerne mal wieder tanzen gehen. Sie und Wilfried verabreden sich mit Wilfrieds Tante Emma im Café Hulstkamp, früher einem Literatencafé, jetzt Lieblingscafé der Nazis. Als die Nazis, allen voran Tante Emmas Geliebter Gregor einfallen, ist Wilfried abgemeldet. Yvette geht mit Karel tanzen, Wilfried betrinkt sich aus Wut und schlägt einen wehrlosen Mann auf der Toilette zusammen. Yvette wirft ihm später vor, sie nicht gegen den aufdringlichen SS-Mann verteidigt zu haben. Am nächsten Tag, will er mit einem Strauß Blumen zu Kreuze kriechen, doch sie ist für Wilfried nicht zu sprechen und reagiert auch nicht auf seine Briefe.
Inzwischen spannen Verhaffel und Verschueren Wilfried einmal mehr für ihre Zwecke ein: An der Vergabestelle für Lebensmittelmarken im früheren städtischen Festsaal soll die Augen offenhalten. Die beiden wollen untergetauchte Juden ausfindig machen, indem sie Leute, die sich mit mehreren Lebensmittelkarten anstellen, kontrollieren und befragen. Es kommt zum Tumult, als ein Mann sich der Aufforderung mitzukommen widersetzt. Der wachhabende Polizist, Lode, wie Wilfried erkennt, wird herbeigerufen, doch die Gestapo-Männer, die Wache das Gebäude observiert hatten, kommen dazu und führen ihn ab. Wilfried verschwindet unauffällig vom Ort des Geschehens.
Wilfried zögert nach diesem Vorfall, Lode zu Hause zu besuchen. Wie nicht anders zu erwarten, wurde dieser von der Gestapo zusammengeschlagen. Wilfried erzählt ihm, wer die beiden Männer waren. Lode erschrickt, denn Verschueren war früher der Anwalt seiner Familie.
Lode nimmt Wilfried zu einer Zusammenkunft der Widerstandsbewegung mit, der er angehört. Dort will er herausfinden, wie weit die Vorbereitungen für den Umzug Lizkes nach Brüssel gediehen sind, wo es sicherer ist.
Wenig später legt Verhaffel Wilfried gefälschte Pässe vor, einer davon für Lizke, und konfrontiert ihn mit der Tatsache, dass der Judenfreund in seiner Abteilung bei der Polizei arbeiten müsse. Er führt ihn in einen Kellerraum, wo Verschueren gerade den Professor foltert, den Wilfried bei der Zusammenkunft der Widerständler kennengelernt hat. Dieser erkennt ihn und will ihn verraten, doch Wilfried tritt ihn bewusstlos.
Wilfried erstattet Lode Bericht über die Vorkommnisse und dieser will Lizke sofort irgendwo anders unterbringen. Widerwillig kommt Lizke mit, als sie ihm die Lage erläutern. Sie bringen ihn zum Hauptbahnhof, wo sie ihm eine Fahrkarte nach Brüssel kaufen und ihn in den Zug setzen wollen. Doch er reißt sich los und verschwindet in der Menschenmenge.
Nun will Wilfried wissen, wie Verhaffel zu ihm steht. Dieser sagt ihm, dass er wisse, dass Wilfried der Verräter sei, denn der Professor habe geplaudert. Verhaffel sei jetzt in der Bredouille, weil er für ihn gebürgt habe. Jetzt wolle er nur noch seine Ruhe haben und ein friedliches Leben führen. Lode stellt Wilfried seinerseits zur Rede, wie es sein könne, dass sie immer noch nicht verhaftet seien und konfrontiert ihn damit, dass er wisse, dass Wilfried ein Verräter sei.
Drei Monaten nach dem Rückzug der Deutschen hat sich die Situation für die Antwerpener Bevölkerung noch nicht verbessert. Es werden ständig Bomben über der Stadt abgeworfen. Wilfrieds Eltern wohnen im Keller. Wilfried jedoch weigert sich, in den Keller zu ziehen. Seine Tante Emma musste nach der Befreiung der Stadt das Haus ihrer jüdischen Arbeitgeber verlassen und hat sich eine kleine Wohnung auf der anderen Seite der Stadt gesucht. Als sie nach viele Wochen, in denen sie nichts von sich hat hören lassen, zu Besuch kommt, bringt sie ihren neuen Freund mit, einen kanadischen Soldaten indianischer Abstammung.
Wilfried ist unterdes arbeitslos, denn die belgischen Polizisten sind vom Dienst suspendiert, weil die Befreier sich nicht sicher sein können, auf wessen Seite sie stehen. Es herrscht Chaos auf den Straßen der Stadt.
Eines Tages passt Verschueren Wilfried ab, als dieser gerade in seinen Schreibkeller, Liszkes früherem Versteck, will, und fleht ihn an, ihn zu verstecken und ihm bei der Flucht nach Spanien zu helfen. Wilfried bietet ihm an, in dem Keller zu bleiben, lockt Lode unter einem Vorwand dorthin und befielt ihm, Verschueren festzuhalten, während Wilfried ihm den Schädel einschlägt.
1946 werden Wilfrieds Gedichte von dem Verleger, der ihnen Jahre zuvor als dichtenden Polizisten verlacht hatte, als er sich in Uniform vorstellte, herausgegeben, doch seine Hoffnung, von der Literatur leben zu können, erfüllt sich nicht. Er bleibt Polizist.
1993. Wilfrieds vermisste Enkelin Hilde wird in einem Bunker gefunden. Sie hat sich erhängt, weil sie die Untaten ihres einst geliebten Opas nicht ertragen konnte. Er bedauert, ihr nicht die Wahrheit über die Geschehnisse von damals erzählt zu haben, als sie drei Jahre zuvor ausdrücklich darum gebeten hatte. Stattdessen hat Lode es getan und ihn auf diese Weise nach all den Jahren des Stillschweigens doch noch verraten.
Gegenwart. Wilfrieds Pflegerin erinnert ihn daran, dass er gar keinen Urenkel hat.
Beurteilung:
Wil ist ein extrem dicht erzählter, sehr filmischer Roman über die deutsche Besetzung von Antwerpen von 1940 bis 44. Er sollte zum Lesekanon in deutschen Schulen gehören.
Die Hauptfigur, Ich-Erzähler Wilfried Wils, gibt vor, seine Erinnerungen für seinen Urenkel aufzuschreiben. Er beginnt mit diesen Aufzeichnungen 1993, also im Alter von 73 Jahren und beendet sie zwanzig Jahre später. Durch das Wissen um diesen Zeitabstand zwischen den Geschehnissen und dem Prozess des Aufschreibens, ist der Leser bereits auf der Hut. Zudem beginnt er mit der Zeit den Verdacht zu hegen, der sich am Ende bestätigt, dass es den Adressaten dieses langen Briefes gar nicht gibt. Es wird deutlich, dass der Leser dem Ich-Erzähler nicht vertrauen kann und trotzdem hat der Leser nicht den Eindruck, dass der Erzähler etwas beschönigen oder sich rechtfertigen möchte – wenngleich natürlich die Tatsache an sich, dass er diese Geschichte erzählt, schon dafürspricht, dass er sein Verhalten zumindest erklären möchte.
Der Ich-Erzähler wendet sich meist an den Urenkel und manchmal direkt an den Leser, was die Distanz zum Erzählten reduziert. Der Leser fühlt sich als direkter Beobachter, wenngleich durch die Augen des Protagonisten, und stellt sich in jeder Situation die Frage: Wie hätte ich gehandelt? Der Leser möchten den im Grunde sympathischen Protagonisten mögen, kann sich aber nicht entscheiden, ob er dessen versuchte Neutralität im Wahnsinn jener Zeit eine gerechtfertigte Überlebensstrategie oder einfach nur feige finden soll.
Doch der Autor charakterisiert in diesem Roman nicht nur die Hauptfigur differenziert und glaubwürdig, sondern auch alle anderen Figuren, an denen er exemplifiziert, welche anderen Strategien damals gelebt wurden. Es gibt beispielsweise die zurückhaltenden Mitläufer, dargestellt durch Wilfrieds Eltern, die Mitläufer, die von der Situation profitierten (Lodes Eltern), die Judenjäger (Verhaffel und Verschueren), die Widerständler (Lode) und die Opportunisten (Emma). Dem Autor gelingt die Darstellung der Komplexität jener Zeit, ohne auch nur einmal klischeehaft zu werden.
In der Rahmenhandlung, die in der obigen Inhaltsangabe vernachlässigt wurde, erfährt der Leser, warum der Ich-Erzähler ursprünglich mit seinen Aufzeichnungen begonnen hat. Sie ergänzt die Haupthandlung um den Bezug zur Gegenwart und dient zur Überleitung zwischen den einzelnen Anekdoten, denn die Haupthandlung wird zwar relativ chronologisch erzählt, enthält jedoch zeitliche Sprünge. Die Rahmenhandlung ermöglicht Vor- und Rückblenden, die zum filmischen Charakter des Buches beitragen.
Der Ton des Buches ist durch den Ich-Erzähler vorgegeben: Ein häufig jovialer Altherrenton, der aber nicht langweilt, mit vielen Wortspielen, Metaphern und Redewendungen mit viel Lokalkolorit, sehr bildlich, sehr melodiös und elegant, allerdings sicherlich schwer zu übersetzen.
Anmerkung am Rande: Das Buch hat auch einen besonderen sprachlichen Charme, weil alles Mündliche in breitestem Flämisch geschrieben ist, das sich natürlich in einer Übersetzung nicht in die Zielsprache hinüberretten lassen wird.
Ein sehr lesenswertes Buch.
Der Autor:
Jeroen Olyslaegers (*1967) schreibt Kolumnen, Theatertexte und Prosa. Wil ist sein dritter Roman. Er ist die erste Auseinandersetzung mit jener Periode in Prosaform überhaupt. Sein erster Roman, Wij, erschien 2009 und war für den Gerard Walschap Literatuurprijs nominiert. 2012 erschien Winst. 2014 erhielt er den Arkprijs van het Vrije Woord für sein Werk und sein soziales Engagement sowie den Edmond Hustinxprijs für sein Theateroeuvre.
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