Jonas hat seinen Hund erschossen und ins Meer geworfen. Wie kam es dazu?
Jonas wächst als überbehüteter Sohn von Abigail, einer wohlhabenden Hotelierstochter und Modedesignerin, und Karel, Geologe und Sohn einer alleinerziehenden Hafenkneipenbesitzerin, auf. Abigail
war damals ohne vorherige Absprache schwanger geworden, während Karel eigentlich gerade mit seinem Boot auf mehrmonatige Inselexpedition gehen wollte, um darüber dann ein Buch zu schreiben. Sie
zwingt ihn, von seinem Plan abzusehen, sie zu heiraten und seine Vaterrolle anzunehmen, doch er kann mit seinem Sohn von Anfang an nichts anfangen und sich nur zur grundlegenden Pflichterfüllung
aufraffen. Sie verschafft ihm eine Stelle als Erdkundelehrer in einer angesehenen Schule, deren Direktor allerdings kein Interesse an dem Fach hat und ihm einen Raum in einem anderen, ansonsten
ungenutzten Gebäude zuweist. Zu Hause ist Karel bereits in den Keller gezogen. Und so fristet er ein Dasein in innerer Emigration zwischen Keller und Klassenzimmer, während seine Frau mithilfe
des gemeinsamen Sohnes erfolgreich ihr Unternehmen aufbaut. Jeden Sozialkontakt, der sich über den Sohn herstellen lässt, sei es in der Schule oder in Vereinsheimen und Clubhäusern der diversen
Sportarten, für die sie ihn anmeldet, weiß sie für ihre Zwecke zu nutzen. Ihr Sohn dient ihr als lebende Schaufensterpuppe für ihre Mode, wodurch er in der Schule zum Außenseiter wird. Auch in
allen anderen Belangen regelt sie sein Leben bis ins Detail und schreibt ihm vor, was er zu denken und zu sagen hat. Er fügt sich.
Nach sieben Jahren entscheidet sich Karel, seine Familie zu verlassen und ganz auf ein Boot zu ziehen, das ihm Theo, ein befreundeter Segelmacher überlassen hat. Jonas sieht ihn danach lange Zeit
nicht wieder und hat auch keinen Kontakt, nicht zuletzt, weil seine Mutter die Briefe des Vaters abfängt und vernichtet. Abigail bindet Jonas immer mehr an sich, auch körperlich. Wenn sie
sonntags vor dem Frühstück nur mit einem Bademantel bekleidet Klavier spielt, muss er ihr den Nacken massieren und manchmal legt sie dann seine Hände auf ihre Brüste.
Als Jonas siebzehn ist, weiß sie der klassischen Pubertätsfaulheit zuvorzukommen, indem sie seine Computerspiele wegwirft, seine Konsole einkassiert und ihn zu einem Tanztrainer schickt, der ihm
das Gehen auf dem Catwalk beibringen soll. Gerade als Jonas am Tanzen Geschmack zu finden beginnt, erblindet er nach einem schweren Autounfall. Nach einer langwierigen Reha empfiehlt der
Psychologe, der Jonas betreut, Abigail, es sei das Beste, wenn Jonas alleine wohnte. Widerwillig richtet Abigail die Ferienwohnung an der See so ein, dass Jonas dort fortan wird wohnen können.
Gegen seinen Willen organisiert sie ihm in kürzester Zeit einen Blindenhund und meldet ihn zum Training an. Seine Trainerin Anouk, die auch Labrador Tristan trainiert hat, soll ihm die nötigen
Befehle beibringen. Jonas gefällt ihr auf Anhieb, obwohl er sich ihr gegenüber sehr unhöflich und abweisend verhält, doch sie macht sie sowieso keine Hoffnungen auf ihn, weil sie sich für zu
unattraktiv und zu dick hält. Es entwickelt sich eine Art Freundschaft.
Nur durch einen Zufall erfährt Karel von Jonas Unfall. Er hatte in der Zwischenzeit ein unauffälliges Leben geführt und seine Enttäuschung über das eigene Versagen als Vater erst vor Kurzem
seiner Kollegin Eefje mitgeteilt, die den Raum neben seinem für ihren Biologieunterricht zugewiesen bekommen hatte. Er zweifelt sogar daran, ob er Jonas leiblicher Vater ist. Eefje bietet ihm an,
einen DNA-Test zu regeln, wenn Karel ihr das nötige Material bringt. Karel stielt sich ins Krankenhaus und sieht seinem erblindeten Sohn bei der Krankengymnastik zu, bevor er aus seinem Zimmer
ein wenig Haar von der Bürste stielt und das Krankenhaus verlässt, ohne sich zu erkennen zu geben. Der DNA-Test ist positiv und diese Bestätigung gibt Karel neue Energie, um sein Leben wieder
aufzunehmen und neue Pläne zu machen wie sein Boot wieder fahrtauglich zu machen, damit er mit Jonas einen Törn machen kann.
Der Energieschub gibt Karel auch den Mut, mit Eefje eine neue Beziehung einzugehen und mit seinem Sohn nach zehn Jahren wieder Kontakt aufzunehmen. Dieser freut sich zwar, seinen Vater wieder in
seinem Leben zu wissen, doch sie wissen beide nicht recht etwas miteinander anzufangen und sind nicht in der Lage, wirklich klärende Gespräche zu führen. Um peinlichen Schweigemomenten
vorzubeugen, fahren sie bei ihren Treffen häufig zu Theo, der sich immer über Besuch freut. Bei einem dieser Besuche lässt er Jonas mit einer Pistole schießen.
Dank Eefje entdeckt Karel seine Liebe zur Insel Spiekeroog. Sie war dort früher in den Ferien immer mit ihrem Vater gewesen, um Vögel zu beobachten. Karel bietet an, sie und ihren inzwischen
dementen Vater nach Spiekeroog zu fahren, doch dazu kommt es nicht, weil der Vater sich weigert, und so fährt Karel allein und verliebt sich spontan in die Insel. Das mittlerweile sehr
renovierungsbedürftige Haus, in dem Eefje und ihr Vater damals immer wohnten, steht zum Verkauf und schnell hat Karel sich mit dem Eigentümer auf einen Preis geeignet. Eigentlich ist der Verkauf
schon in trockenen Tüchern, als ein unbekannter Investor das Doppelte bietet und der Eigentümer ihm dem Vorzug gibt, weil er das Geld braucht. Dass hinter dem Investor seine Exfrau steckt, weiß
Karel nicht. Er ist am Boden zerstört. Da erhält er einen verzweifelten, kryptischen Anruf von Jonas und macht sich auf den Heimweg.
Jonas hatte sich mit Anouk zum Spazierengehen verabredet. Nach dem Spaziergang hatte er ihr etwas zu trinken angeboten. Es war erst zu Zärtlichkeiten gekommen. Dann hatte er sie ins Schlafzimmer
geführt. Als sie ihn, der ihr Gesicht mit einer edlen Gesichtscreme eincremte, zu mehr ermutigen wollte und seine Hände auf ihr Brüste, die sie in der Zwischenzeit entblößt hatte, legt, brennt
bei ihm eine Sicherung durch. Er beginnt in ihre Brüste zu kneifen und erwürgt sie schließlich fast. Im letzten Moment kann er sich noch losreißen. Sie flüchtet.
Kurz darauf nutzt er einen Besuch bei Theo dazu, eine Pistole mitgehen zu lassen. Er kann nicht ertragen, dass der Hund diese Szene mitangesehen hat. Er erschießt ihn am Strand, geht wieder nach
Hause und wartet auf seine Mutter. Kurz darauf wird der tote Hund gefunden und Anouk wird aufs Polizeirevier zitiert, wo ihr Chef bereits ist. Sie weiß durch eine Lüge abzuwenden, dass ihr Chef
Jonas anzeigt. Er widerspricht ihr nicht, stellt sie jedoch vor der Tür zur Rede und schickt sie zu Jonas, um ihn zu fragen, was passiert ist. Anouk ist zwar traumatisiert, hat aber auch Mitleid
mit Jonas und möchte selbst gerne wissen, was geschehen ist und macht sich auf den Weg.
Abigail kommt bei Jonas Wohnung an, geht nach oben und findet ihn nackt im Sessel. Er erschießt sich vor ihren Augen. Kurz darauf kommt Karel in die Wohnung und findet Abigail mit dem
blutüberströmten Jonas im Arm. Anouk steht vor dem Wohnhaus, sieht Abigail und Karel ankommen, kurz darauf den Krankenwagen.
Eine Woche später. Abigail näht den Anzug, den Jonas im Sarg tragen wird. Eefje sagt Karel, dass sie schwanger ist. Anouk betäubt ihre Trauer mit Essen.
Beurteilung:
Die Rahmenhandlung des Romans spielt sich im Laufe eines Tages ab und wird aus vier verschiedenen Perspektiven – von Jonas, Abigail, Karel und Anouk – erzählt, Jonas als Ich-Erzähler, die anderen
als personelle Erzählstimmen. Das Buch ist in meist recht kurze Kapitel unterteilt, aus deren Überschriften hervorgeht, wessen Perspektive der Leser folgt und um wieviel Uhr. Ausgehend von den
Aktivitäten dieses einen Tages wird in Rückblenden die vollständige Vorgeschichte erzählt. Es gelingt dem Autor, jedem Erzähler eine bestimmte Färbung mitzugeben, ohne dass es klischeehaft wird:
Jonas ist verbittert und voller Selbsthass, weil er sich sein Leben lang von seiner Mutter hat gängeln lassen und nach seinem Unfall das Gefühl hat, sein Leben vergeudet zu haben. Karel ist
jahrelang phlegmatisch und antriebslos, seit er seinen Lebenstraum, die Inselexpedition, für Abigail aufgegeben hat. Abigail ist diszipliniert und dominant, hart gegenüber anderen wie sich selbst
und Anouk ist ein Mauerblümchen mit wenig Selbstwertgefühl. Alle vier leben einen unterschiedlichen Umgang mit ihrer Einsamkeit.
Blindelings ist ein runder, stimmiger Roman mit glaubwürdigen, nachvollziehbaren Figuren, der eine tragische Geschichte völlig ohne Pathos und in schöner Sprache sehr bildhaft erzählt.
Der Autor:
Kris Van Steenberge (*1963) ist ein flämischer Schriftsteller, Bühnenautor, Regisseur und Dozent. Sein Debütroman Woesten erschien 2013, die deutsche Übersetzung (Verlangen, Klett-Cotta)
2016. Das Buch erhielt mehrere Auszeichnungen, die Filmrechte sind verkauft. Im September 2016 erschien sein zweiter Roman, Blindelings (Blindlings).
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