Leo wächst in einem Dorf auf. Ihre Kindheit ist schwierig, weil sie das Schlachtfeld ist, auf dem ihre Eltern ihren kalten Beziehungskrieg führen. Als sie 17 ist, stirbt ihre Mutter bei einem Fahrradunfall. Vater und Tochter entfernen sich durch ihre unterschiedliche Art zu trauern endgültig voneinander. Ihre Freundin Indra versucht, sie so gut es geht abzulenken. Nach dem Schulabschluss überzeugt sie sie davon, dass ein Filmstudium an der Filmhochschule RITCS in Brüssel genau das Richtige für sie sei. Sie selbst beginnt ein Jurastudium in der Hauptstadt. Zusammen verlassen sie das Dorf und ziehen in eine gemeinsame Wohnung in Brüssel.
Schon nach kurzer Zeit beginnt Indra eine Beziehung und ist kaum noch zuhause. Leo, die sehr zurückhaltend ist, tut sich schwer mit Sozialkontakten. Darüber hinaus hat sie sehr wenig Geld und kann entsprechend am typischen Studentenleben nicht teilnehmen. Solange Indra, die über mehr Geld verfügte, noch in der gemeinsamen Wohnung wohnte, hatten sie die Vereinbarung, dass sie einkauft und Leo dafür den Haushalt schmeißt. Nach Indras Auszug ernährt Leo sich unter anderem von den essbaren Körnern aus dem Futter von Indras Hamster, den diese zurückgelassen hat.
Als Simon, ein begnadeter Zeichner, der an derselben Hochschule Illustration studiert und immer von einer Menschentraube umgeben ist, erfährt, dass seine Mutter in wenigen Monaten an Krebs sterben wird, legen verschiedene Studenten ihm Nahe, mal mit Leo zu sprechen, da sie wisse, wie es sei, einen Elternteil zu verlieren. Simon und Leo freunden sich an, finden beieinander Trost und werden später eines dieser Paare, das nichts mehr ohne einander tut und sich selbst genug ist. Auch er hat in seiner Kindheit sehr gelitten, und zwar unter seinen Segelohren, wegen derer er jahrelang in der Schule gehänselt worden ist, und die er sich später operativ hat anlegen lassen.
Nach dem Studium beginnt Simon als Grafiker in der Agentur Think Out Loud zu arbeiten. Leo selbst ergreift nach dem Studium den erstbesten Job bei Buik & Boek, einer Boutique für Schwangerschaftsmode, die direkt neben der Hochschule liegt, um ihre künstlerischen Ambitionen finanzieren zu können. Dort lernt sie Lotte kennen, die in einer ähnlichen Situation ist, denn sie hat Schauspiel studiert, und freundet sich mit ihr an.
Think Out Loud wächst schnell, sodass Simon nach vorschlägt, einen Projektleiter einzustellen, der für die Koordination der Projekte zuständig ist. Auf diese Weise kommt Coen ins Unternehmen. Bei einer der wenigen Abendeinladungen im inzwischen gemeinsamen Zuhause von Leo und Simon lernen Coen und Lotte sich kennen und werden ein Paar. Einige Jahre gehen ins Land, in denen Simon und Leo eine harmonische, unaufgeregte Beziehung führen und sich ab und an mit Coen und Lotte treffen.
Doch dann, eines Nachts, kommt Simon völlig überdreht nach Hause. Er hat sich spontan von einem Tatookünstler, den er an dem Abend kennengelernt hat, eine Tätowierung hinter dem Ohr stechen lassen. Er kündigt seinen Job bei Think Out Loud, um sich als Designer für personalisierte Tätowierungen selbständig zu machen. Zu diesem Zweck räumt er kurzerhand die Wohnung um, kauft Berge von Visitenkarten und Werbekulis, die er überall in der Stadt verteilt und macht sich an den Entwurf einer Webseite. Er schläft immer weniger und wird immer paranoider.
In dem Lieferwagen vor der Tür, in dem Arbeiter während der Straßenarbeiten ihre Werkzeuge lagern, vermutet er eine Abhörzentrale und alle Machenschaften führt er zurück auf Coen, der ihn schon in der Schule gemobbt, dann bei Think Out Loud den Job weggeschnappt habe und jetzt versuche, ihn zu ruinieren.
Aus Scham behält Lotte ihre Sorgen für sich. Da Coen das Zentrum von Simons Obsession ist, traut sie sich nicht, Lotte, die ihre einzige Freundin ist, ihr Herz aus zu schütten. Nur am Rande bekommt diese mit, dass mit Simon etwas nicht stimmt. Doch bei einem gemeinsamen Abend wird nur allzu deutlich, dass Simon ein ernst zu nehmendes Problem hat. Coen legt ihm nahe, psychiatrische Hilfe zu suchen, und Lotte gibt Leo am nächsten Tag bei der Arbeit den Namen eines Kollegen ihrer Tante, die selbst Psychologin ist.
Als Leo Simon endlich so weit hat, dass er einem Besuch beim Psychiater, Dr. Letiège, zustimmt, verläuft das Gespräch anders, als Leo es sich erhofft hat. Sie werden abgespeist mit der lapidaren Empfehlung, Simon solle einfach mal ausschlafen, und ihres Weges geschickt mit einem Rezept für eine Packung Schlaftabletten für vierzehn Tage. Leo ist verzweifelt, sieht sie doch, dass Simon zwar während der Wirkungszeit des Mittels wie betäubt ist, doch sobald die Wirkung nachlässt wieder zu Hochtouren aufläuft und mit immer wirreren Thesen ankommt. Noch immer traut sie sich nicht, sich Lotte anzuvertrauen. Diese ist inzwischen schwanger, sodass Leo sie erst recht nicht belasten will.
Eines Tages ist es dann so weit. Bevor sie zur Arbeit gegangen war, hat Leo Simon, der inzwischen in seinem Büro ein komplexes Netz aus Pfeilen ans Whiteboard geschrieben hat, die alle auf den Namen Coen im Zentrum weisen, ein Ultimatum gestellt: Sie werde nicht nach Hause kommen, wenn er nicht am selben Tag noch psychiatrische Hilfe suche. Abends geht sie zu Lotte und Coen und übernachtet auch dort. Morgens wird sie von Lotte geweckt, die ihr sagt, Simon habe in der Nacht dreißigmal Coen anzurufen versucht. Gemeinsam versuchen sie, einige der hinterlassenen Nachrichten zu verstehen, doch ohne Erfolg. Leo rast nach Hause und findet die Wohnung in totalem Chaos vor. Mitten in diesem Chaos steht Simon, blutig, nackt, in Frischhaltefolie gewickelt. Er glaubt ihr nicht, dass sie Leo ist. Als der Krankenwagen kommt, widersetzt er sich nicht. Er wird in die geschlossene Abteilung des Krankenhauses aufgenommen und Leo nach Hause geschickt. Auf dem Heimweg vereinbart sie mit Lotte, dass sie bei ihr übernachten werde.
Erst will sie zuhause nur schnell die schlimmste Unordnung beseitigen, doch dann beginnt sie an einer gründlicheren Aufräum- und Reinigungsarbeit. Die gemeinsame Katze vermutet sie unter dem Bett. Auch Simons Onlineergüsse versucht sie so gut es geht zu löschen. Dann packt sie ein paar Kleidungsstücke für Simon ein und geht ins Badezimmer, um seine Zahnbürste zu holen. Dort muss sie erkennen, dass das Knäuel unterm Bett, dass sie für die Katze gehalten hat, wohl doch etwas anderes sein muss, denn die Katze liegt blutüberströmt in der Badewanne, die Augen ausgelöffelt.
Auch über dieses Detail spricht sie nicht mit Lotte, als sie bei ihr eintrifft, denn die Katze war ein Geschenk von Coen und Lotte. Ihnen erzählt sie, sie sei schon einige Tage nicht mehr nach Hause gekommen. Als sie nachts wach wird, beginnt sie in Fotoalben aus Coens Jugend zu blättern, die im Gästezimmer liegen, und muss feststellen, dass Coen nie, wie Simon in seinem Wahn behauptet hat, in dessen Klasse gewesen ist.
Fünf Tage später darf sie Simon zum ersten Mal besuchen. Sie ist geschockt, einen willenlosen Zombie anzutreffen. Neben ihrer Arbeit in der Boutique besucht sie ihn, so oft sie kann. Da sie sich noch immer nicht traut, mit Lotte über Simons Zustand zu sprechen, ist sie froh, als ihr eine wöchentliche Kolumne in der Frauenzeitschrift Libelle angeboten wird, in der sie unter dem Pseudonym Zara Six über das Leben mit einem Lebensgefährten mit psychischen Problemen und den Alltag in der geschlossenen Abteilung schreiben darf. Erst sollen es nur fünf Kolumnen werden, doch dann wird Zara Six so populär, dass ihr Auftrag verlängert wird.
Auch als sie ihn sieben Wochen später wieder mit nach Hause nehmen darf, ist in Simon noch nicht viel mehr Leben. Beim Entlassungsgespräch erläutert der Psychiater ihnen die Zyklen bei Manisch-Depressiven und betont die Wichtigkeit der korrekten Einnahme der Medikamente. Wieder zuhause lässt Simon sich brav um die festgelegten Uhrzeiten die Medikamente verabreichen und tut ansonsten nicht viel. Die Depression hat ihn völlig im Griff. Er hängt an Leos Rockzipfel, ist aber auch ständig müde, sodass es ihr trotzdem gelingt, weiter heimlich ihre Kolumne für die Libelle zu schreiben.
Zwei Wochen später kehrt sie in die Boutique zurück. Nur mit Mühe kann sie Simon davon abbringen, sie zu begleiten und den Tag im Lagerraum sitzend zu verbringen. Lotte spricht sie auf eine große Kampagne an, die Durchfahrt der Tour de France in Brüssel, für die Think Out Loud noch einen Grafiker suche, doch Leo wehrt ab, weil sie nicht glaubt, dass Simon in seiner derzeitigen Verfassung zu so einem stressigen Auftrag in der Lage ist. Was sie ihr nicht sagt, ist, dass sie ihn nicht wieder in (vermeintlicher) Konkurrenz zu Coen ins Rennen schicken möchte.
An Simons Geburtstag organisiert Leo eine kleine Feier, zu der Lotte und Coen als Geschenk ein neues Kätzchen mitbringen. Leo ist entsetzt, hat sie doch mit Simon noch immer nicht über die Schlachtung der vorigen Katze gesprochen und weiß deshalb nicht, ob er sich nicht doch daran erinnert. Der Geburtstagsrunde gehen recht schnell die Gesprächsthemen aus, sodass Simon das Gefühl hat, noch nicht einmal im Geburtstag-Haben gut zu sein.
Um ihm eine Freude zu machen, lässt Leo sich eine Skizze, die Simon in seinem Tattoo-Designer-Wahn für sie gezeichnet hat, auf den Oberarm tätowieren. Auf dem Heimweg erhält sie seinen Anruf von Lotte, die sie fragt, ob sie Zara Six sei. Ihre Mutter hat ihr ältere Ausgaben der Libelle mitgebracht, weil sie sich wegen verfrühter Wehen schonen muss. Zähneknirschend bekennt Leo und verpflichtet Lotte zur Verschwiegenheit.
Als Dr. Letiège in Rente geht, übernimmt ein viel jüngerer Psychiater seine Patienten, Dr. Khany. Während Dr. Letiège an Simons Medikamentencocktail nichts verändern wollte, will Khany Simon vorsichtig auf modernere Medikamente einstellen, die es ihm auch wieder ermöglichen sollen zu arbeiten. Er ermutigt ihn, sich einen Job zu suchen.
Gleich auf dem Nachhauseweg geht Simon ins erste beste Schokoladengeschäft im touristischen Stadtzentrum, in dessen Schaufenster er vor Kurzem einen Job-Aushang gesehen hat. Leo regt an, doch bei TOL anzufragen, ob sie nicht Arbeit für ihn hätten, doch er sagt, er habe auf der Webseite gesehen, dass sie für die Tour-de-France-Kampagne noch Leute suchten und sie hätten nicht an ihn gedacht und seien deshalb wohl auch nicht interessiert.
Durch die neuen Medikamente wird Simon wieder misstrauischer, sodass er seinen Job verliert, weil er seinem Chef unterstellt hatte, ihm immer die schwierigsten Kunden zuzuspielen, um ihn zu testen. Eine Woche später meldet die Eigentümerin der Boutique Konkurs an. Lotte passt das im Grunde ganz gut, denn so kann sie länger mit dem Baby zuhause bleiben, aber Leo sieht hierin einen weiteren Schritt, der sie von Lotte entfernt. Zwar hat diese sie gefragt, ob sie Patentante werden wolle, und Leo hat selbstverständlich zugesagt, doch eigentlich kann sie sich diese Rolle im Moment schlecht vorstellen, vor allem wegen Simons psychischer Instabilität.
Inzwischen hat Coen Simon gebeten, ob er die Geburtskarte gestalten wolle, und dieser hat sich mit vollem Elan auf diese Aufgabe gestürzt. Leider schaltet er auch sofort wieder in Overdrive und sieht vor seinem inneren Auge schon sein zukünftiges Geburtskartenimperium. Als er am Tag der Geburt den Vornamen des Kindes genannt bekommt, um ihn auf die Karte zu setzen, Leontine, riecht er wieder eine Verschwörung, denn warum sollten sie das Kind nach Leo und seiner Mutter, Tinne, benennen? Lotte ruft beunruhigt Dr. Khany an, der beschwichtigt und empfiehlt, Simon noch ein wenig Zeit zu geben, um sich an die neuen Medikamente zu gewöhnen.
Beim Babybesuch kurz darauf benimmt sich Simon unmöglich, macht abgeschmackte Altherrenwitze und ist beleidigt, als man ihm das Baby nicht geben will. Es kommt zu einem Wortwechsel, bei dem Leo versucht, Simon in Schutz zu nehmen, woraufhin Lotte ihr vorwirft, selbst unehrlich zu sein, womit sie auf die Kolumnen anspielt. Sie verabschieden sich schnell, bevor irreparabler Schaden entstehen kann. Auf dem Heimweg entschuldigt Leo sich bei Lotte per SMS, was wiederum Simon, der sie dabei erwischt, in den falschen Hals bekommt.
Beim anschließenden Streit spricht Leo Simon endlich auf den Tod der Katze an. Er gibt an, sich vage an Bruchstücke zu erinnern, ist aber überzeugt, dass ihm diese Bilder im Krankenhaus unter Hypnose eingeflüstert worden seien. Das alles sei eine Verschwörung von Lotte und Coen, der ihn schon in der Schule gemobbt habe. Für Leos Einwand, Coen sei nie in Simons Klasse gewesen, hat er kein Ohr. Kurz erwägt sie, reinen Tisch zu machen und ihm von den Kolumnen zu erzählen, verwirft jedoch den Gedanken.
Am nächsten Tag, Leo ist gerade dabei, die Waren in die Regale der renovierten Boutique zu räumen, ruft Lotte, die mit dem Baby hatte vorbeikommen wollen, sie in Panik an. Simon habe ihr vor dem Büro von Think Out Loud Leontine aus den Armen gerissen, sie in eine Tüte gesteckt und sei mit ihr davongeradelt. Leo versucht ihn telefonisch zu erreichen und sieht dabei eine E-Mail ihrer Redakteurin, die eine wirre E-Mail von Simon bekommen hat, in der er sie bezichtigt, mit Coen unter einer Decke zu stecken. Auslöser ist eine SMS von Coen am Morgen, er sei nicht sein Feind, sondern Simon solle mal Zara Six googeln. Entgegen ihrer Abmachung hatte Lotte Coen doch von den Kolumnen erzählt. Coen, der von Simons psychischer Verfassung nicht genug weiß, ist sich der Tragweite seiner Botschaft nicht bewusst, doch Leo springt sofort auf ihr Fahrrad und rast so schnell sie kann nach Hause, während Coen und Lotte zum Krankenhaus fahren. Dort ist er nicht.
Als Leo zuhause ankommt, sieht sie sein Fahrrad unabgeschlossen vor der Tür stehen. Sofort ruft sie einen Krankenwagen. Mit bleischweren Beinen geht sie die Treppe hoch und befürchtet das Schlimmste, doch als sie die Wohnung betritt, sitzt Simon einfach nur selig mit dem Baby im Arm auf dem Sofa. Leo, die ihr Leben vollends zerfallen sieht ohne die Freundschaft von Lotte und Coen und mit einem Lebensgefährten, der gleich abgeholt wird, lässt sich zu einem Selfie mit Baby überreden.
Beurteilung:
Ik ben er niet ist eine detaillierte Tour de Force über das Leben mit einem psychisch Kranken. Anders als so viele in den letzten Jahren erschienenen Romane wird die Krankheit nicht vom Kranken selbst geschildert, sondern von seiner Lebensgefährtin Leo.
Der Roman ist aufgebaut aus drei Handlungssträngen, die sich kapitelweise abwechseln. In einem, datiert Mai 2018 bis Februar 2019, schildert die Ich-Erzählerin den betreffenden Zeitraum, also den Beginn von Simons erster manischen Phase, erster Depression und Wiederaufflackern der Manie. Im zweiten, datiert beginnend vor zwölf Jahren, blickt sie zurück auf ihr Leben in Brüssel und ihre Beziehung mit Simon vor dessen erstem manischen Schub. Im dritten, überschrieben mit einem Countdown in Minuten, erst von dem Moment an, in dem sie die Nachricht von der Entführung erhält bis sie den Laden verlässt, um nach Hause zu rasen, und dann jeweils mit Ortsangabe bis zu ihrem Eintreffen zuhause, folgt der/die Leser/in ihr am 22. Februar 2019, dem Tag, an dem Simon Leontine entführt. Die ersten zwei nehmen weitaus mehr Raum ein als der dritte, der eher wie ein Band dazwischen gewoben ist und für den Spannungsbogen sorgt.
Der Roman beginnt mit dem Moment, in dem Leo in der Boutique, die gerade den Eigentümer gewechselt hat, die neue Ware in die Regale sortiert und deshalb Lottes Anrufe auf ihrem stillgestellten Handy nicht sieht. Der Ton ist gesetzt und der filmische Charakter des Buches wird sofort deutlich. Die Ich-Erzählerin, von der wir erfahren, dass sie Film studiert hat, erinnert sich an ihren Kurs Drehbuchschreiben, in dem ihr Dozent anhand einiger Beispiele die Funktion verschiedener Kameraeinstellungen im Thriller erklärte.
Erst fünfzig Seiten später wird dieser Handlungsstrang weitergeführt. In der Zwischenzeit lernt der/die Leser/in Lotte kennen, die eine Schlaftablette nehmen muss, um ohne Simon, der mit Kollegen unterwegs ist, einschlafen zu können, und Simon, der völlig überdreht und mit Tätowierung hinterm Ohr mitten in der Nacht nach Hause kommt und ihr von seiner neuen Geschäftsidee berichtet. Darüber hinaus erfährt der/die Leser/in, wie Leo und Simon sich kennen- und lieben gelernt haben und wie ihre Beziehung vor Simons Krankheit ausgesehen hat.
Es dauert noch weitere siebzig Seiten, bis der/die Leser/in überhaupt weiß, was eigentlich vorgefallen ist. Ab ungefähr der Hälfte des Buches reduzieren sich die Abstände, in denen dieser rote Faden wieder aufgegriffen wird, dann auf zwanzig bis dreißig und zuletzt zehn Seiten, wodurch der Schwung trotz der vielen dazwischen liegenden Seiten erhalten bleibt.
Das Buch ist mit seinem Umfang von über 500 Seiten ein ziemlicher Wälzer, doch es langweilt mit keine Satz. Erstaunlich für ein Buch, dass so gut wie ausschließlich um die zwei Hauptfiguren herum aufgebaut ist. Zwar lernen wir am Rande auch Indra, Simons Vater, Lotte und Coen und noch ein paar Bekannte des Paares kennen und Coen nimmt in Simons Wahn durchaus viel Raum ein, aber trotzdem geht es im Kern immer nur um Leo und Simon.
Leo ist selbst eine schwer traumatisierte Person mit eigenen psychischen Baustellen, die den Unfalltod ihrer Mutter nie verarbeitet hat und sich im Grunde nur davon abgelenkt hat, indem sie Simon tröstet. Auf diese Weise haben sie sich eine Welt geschaffen, in der sie sich gegenseitig Stütze sind, was jedoch auch zu einer starken Abhängigkeit führt. Je mehr Leo das Gefühl hat, dass ihre Freundschaft mit Lotte durch deren Beziehung und Schwangerschaft zu versanden droht, desto mehr klammert sie sich an Simon. Seine Krankheit versucht sie deshalb monatelang zu ignorieren und leider kommt ihr auch niemand zu Hilfe. Simon ist einer ähnlichen Situation. Im Gegensatz zu Leo hat er viele Bekannte, aber eben auch keine Freunde. Zusammen bilden sie eine Insel, die mit Beginn seiner Krankheit im Ozean seiner Wahnvorstellungen zu versinken droht.
Denn nicht nur Simon leidet unter seinem Wahn, auch Leo, die alles aufzufangen versucht, wird in diesen Strudel mit hineingezogen. Indem sie Simon vor der Außenwelt abschirmt, entfernt sie sich auch von den letzten Menschen, die eigentlich für sie da sein wollen. Das Schreiben der Kolumne über geistige Gesundheit ist ihr einziges Ventil, und schließlich wird es ihr sogar wichtiger als ein Gespräch mit Lotte. Dass sie über diese Kolumne nicht mit Simon sprechen kann, belastet sie sehr, und ist Symptom für die anstehende Trennung, die sie jedoch um jeden Preis abzuwenden versucht. Letztlich muss sie sich nach Leontines Entführung jedoch eingestehen, dass sie sich etwas vorgemacht hat. Nicht nur wird sie wahrscheinlich nie eine Familie mit Simon gründen können, sondern es ist sogar sehr fraglich, ob die Beziehung als solche überhaupt noch aufrecht erhalten werden kann.
Ik ben er niet ist sehr filmisch geschrieben, mehr noch als Het smelt, man sieht die Kamerafahrten so vor sich. Mit großer Liebe zum Detail hat Lize Spit auch dieses Mal noch die kleinsten Banalitäten des Beziehungsalltags plastisch ausformuliert. Der/die Leser/in erfährt beispielsweise den Ursprung der Kosenamen von Leo und Simon und weiß genauestens Bescheid über viele ihrer Rituale. Auf diese Weise bekommt der/die Leser/in ein Gefühl dafür, was für einen Verlust Leo durch Simons Krankheit erleidet.
Der Titel Ik ben er niet (Ich bin nicht da) referiert an Simons Voicemailansage, lässt sich aber auch auf ihn als Person anwenden, denn tatsächlich ist der kranke Simon ein völlig anderer als der gesunde.
Ik ben er niet entfaltet ab der ersten Seite eine Sogwirkung, die bis zum Ende anhält. Immer mehr identifiziert sich der/die Leser/in mit der Figur der Leo, bis hin zu ihrer Abwehrhaltung und ihrem Zögern, als sie ganz am Ende zuhause eintrifft und kaum wagt, die Treppe zur gemeinsamen Wohnung hochzugehen, aus Angst, ein zerteiltes Baby vorzufinden. Die zunehmende Lähmung der Hauptfigur geht über auf den/die Leser/in. Das ist zwar nicht angenehm, aber durchaus faszinierend.
Ein Bonus für alle, die Brüssel kennen, ist, dass die Realia alle tatsächlich existieren, bis hin zur Boutique für Schwangerschaftsmode, die vor einigen Jahren geschlossen hat. Wer Brüssel kennt, kann sich also mit der Hauptfigur durch die Stadt bewegen.
Ein großartiges Buch.
Die Autorin:
Lize Spit (*1988) debütierte 2016 mit dem Roman Het smelt (Und es schmilzt), von dem im niederländischen Original über 200 000 Exemplare verkauft wurden. Er gewann verschiedene Literaturpreise (Bronzen Uil, Hebban Debut Prize), stand auf der Shortlist von weiteren (Libris Literature Prize 2017, Fintro Literature Prize 2017, Lucy B. en C.W. van der Hoogt Prize), wurde bisher in sechzehn Sprachen übersetzt und wird derzeit verfilmt.
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