Die brasilianische Großstadt ist klar in „Stadt“ und „Berg“ aufgeteilt. In der Stadt bemüht sich Elizabets Mann, der Polizeichef ist, um Recht und Ordnung, am Berg, in den Favelas, regiert ein
Clan mit eiserner Hand. Um des lieben Friedens Willen greift dort die Polizei nicht ein und erwartet im Gegenzug, dass die Bewohner des Berges möglichst wenig das Straßenbild der Stadt stören, es
sei denn als Arbeitsameisen im Dienste der Stadtbewohner.
In dieser scheinbar heilen Welt lebt Elizabet, die schon seit ihrer Kindheit Manuela bei sich in Dienst hat. Erst war sie ihr Kindermädchen, später wurde sie ihre Haushälterin und Helferin in
allen Lebenslagen. Nach Elizabets Eheschließung wird von ihr Nachwuchs erwartet, doch sie kann keine Kinder bekommen und täuscht daher eine Schwangerschaft vor, an deren Ende sie ein durch
Manuela vom Berg beschafftes Kind übernehmen wird. Ein erster Versuch scheitert an der Unähnlichkeit des Babys mit Elizabets Ehemann. Doch ein zweites, auf die Schnelle organisiertes Kind wird in
die Familie integriert und wächst als ihr Sohn auf. Mit den Jahren wiegt dieses Geheimnis immer schwerer auf Elizabets Gewissen. Als Maria, die Frau, die ihr damals das Kind beschafft hat, vom
Clan in den Rollstuhl geprügelt wird, gibt sie vor, sie finanziell und mit Medikamenten unterstützen zu wollen, tauscht jedoch nach kurzer Zeit die lebenswichtigen Mittel aus, sodass Maria
stirbt. Um Buße zu tun, betätigt Elizabet sich wohltätig in einem von Nonnen geführten Waisenhaus am Berg.
Lucy ist in die Prostitution von Kindesbeinen an hineingewachsen. Schon lange elternlos, teilt sie sich ein Häuschen in der schäbigsten Ecke des Berges mit ihrer Freundin Angelica, dessen Miete
die beiden als Prostituierte verdienen. Mit 14 ist sie zum ersten Mal schwanger und gibt das Kind weg, ohne mit der Wimper zu zucken, weil sie sonst nicht weiterarbeiten könnte und ihr Haus
verlieren würde. Sie vertraut den Sohn Maria an, die ihn weiterzuvermitteln verspricht. Einen Tag nach der Entbindung ist Lucy schon wieder an der Arbeit. Als sich ein englischer NGO-Mitarbeiter
in sie verliebt, hofft sie auf ein anderes Leben an seiner Seite, doch nachdem er nach England zurückgegangen ist, hört sie nicht mehr von ihm. Jahre später wird sie ein weiteres Mal schwanger.
Ein unsachgemäßer Abtreibungsversuch durch Angelica scheitert und ihre Tochter wird blind und geistig behindert geboren. Sie gibt sie in die Obhut der Nonnen, besucht sie jedoch aus verspätetem
Pflichtbewusstsein wöchentlich und träumt davon, ihren Sohn wiederzufinden. Zwar findet sie bei Maria ein Heft, in dem alle vermittelten Kinder vermerkt wurden, doch steht hinter ihrem Sohn, der
unter dem Namen Anjo aufgeführt wird, neben dem durchgestrichenen Wort „Polizeichef“ nur „Sertão“. Da sie weiß, dass von dort selten jemand lebend zurückkommt, gibt sie die Suche auf und verfällt
in eine Depression. Sie zieht zu ihrer Tochter, stirbt jedoch kurz darauf. Als Sargbeigabe bringt Angelica unter anderem die Briefe des Engländers, die sie jahrelang abgefangen hat.
Tatsächlich wächst Anjo im Sertão auf, auf einer heruntergekommenen Farm, die von zwei drogenabhängigen Trunkenbolden bewohnt wird, die dort Gruppensexabende mit eigens hierfür aus der Stadt
herangekarrten Prostituierten veranstalten. Die auf der Farm mehr schlecht als recht lebenden Kinder werden den LKW-Fahrern zur Verfügung gestellt, die die Prostituierten bringen und wieder
mitnehmen. Eines Tages wird auch ein kleines Mädchen auf der Farm abgegeben, Alma, um die Anjo sich wie um eine Schwester kümmert. Doch als sie nach schweren Misshandlungen stirbt, wagt er die
Flucht. Sie gelingt, und so kommt er in die Stadt, lebt einige Zeit bei einem Einsiedler in einem Leuchtturm, bis er schließlich Gía kennenlernt, ein junges Mädchen vom Berg, das als Schneiderin
für die Stadtbewohner ihren Lebensunterhalt verdient. Immer wieder hat Anjo auf dem steinigen Pfad, der sein Leben bisher gewesen ist, Menschen getötet, die ihm nach dem Leben trachteten, doch
jetzt scheint ihm das Leben zuzulachen. Er zieht zu Gía, pflegt aufopferungsvoll ihre Mutter bis zu deren Tod und möchte eine Familie gründen. Kurz vor der Entbindung kommt es jedoch zu einem
Zwischenfall, der all seine Traumata wieder hochkommen lässt, sodass er Gía in einem Albtraum das Gesicht zu Brei schlägt. Die Hebamme, die sie findet, schickt dem geflohenen Anjo den Clan auf
den Hals, der mit ihm kurzen Prozess macht. Gía überlebt schwer entstellt und gebiert eine Tochter, die sie Alma nennt.
Beurteilung:
Schuim der Aarde ist sicher kein Wohlfühlroman, doch die Faszination des Grauens sorgt dafür, dass man ihn bis zum Ende nicht aus der Hand legen kann. Bis zuletzt hofft der Leser, dass in
zumindest einem der drei Handlungsstränge eine positive Wendung eintritt, doch die ist ihm ebenso wenig vergönnt wie den Hauptfiguren.
Die Autorin beschreibt sehr bildlich und mit viel Einfühlungsvermögen die sehr unterschiedlichen Lebensumstände der Hauptfiguren und verwebt deren Welten sehr gekonnt zu einem Ganzen, obwohl sich
ihre Wege immer knapp nicht kreuzen. Das alles gelingt ihr völlig unsentimental und nüchtern, und trotz der zunehmenden Hoffnungslosigkeit flicht sie immer wieder leichte Passagen ein und zeigt
so die Lebenslust und den Lebenswillen ihrer Figuren. Trotz der düsteren Themen – Prostitution, Kindesmissbrauch und -misshandlung, extreme Armut, Einsamkeit, Kinderlosigkeit, Behinderung –
drückt die Autorin nie auf die Tränendrüse.
Stattdessen hält sie sich zurück und erzählt rein beobachtend und wertungsfrei, sodass der Leser sich gut in die sehr glaubwürdig charakterisierten Figuren hineindenken kann und ihre Beweggründe
versteht. Entsprechend beurteilt er Gut und Böse überraschend anders, als er es als Außenstehender würde. Er kann beispielsweise perfekt verstehen, warum Anjo aus purem Überlebensinstinkt heraus
Menschen tötet.
Schuim der Aarde ist ein eindringliches Buch, das den Leser nachhaltig erschüttert.
Die Autorin:
Roxane van Iperen (*1976) ist eine niederländische Juristin und Publizistin. Schuim der Aarde ist ihr Romandebüt und hat 2017 den Hebban Debuutprijs gewonnen.
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