Die Ich-Erzählerin, 36, von der wir nur erfahren, dass ihr Liebhaber sie Vogel nennt, hat letzteren in einer stillen Seitenstraße erstochen. Zwar kehrt sie noch einmal zum Tatort zurück und ruft dann mit seinem Handy doch noch einen Krankenwagen, aber er sieht schlecht aus für das Opfer. Sie nimmt ihm Handy, Uhr und Portemonnaie ab, damit es wie ein Überfall aussieht. Wie kam es zu diesem Mord? Das erzählt sie dem Leser rückwärts.
Nach dem Tod ihres Vaters, der ein gewalttätiger Alkoholiker war, der Frau und später Sohn regelmäßig verprügelt und die Tochter meist ignoriert hat, bildet Vogel, die den heimischen Bauernhof zum Studium verließ und fortan dem Landleben den Rücken kehrte, sich ein, ihm überall zu begegnen. Doch dann erkennt sie, dass es sich lediglich um einen jugendlichen Doppelgänger handelt. Noch bevor sie ihn näher kennenlernt, beschließt sie, ihn mit einem Messer, das sie bei einem Spaziergang auf einer Parkbank findet, umzubringen.
Sie verfolgt ihn kurze Zeit, bis es ihr gelingt, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Es entwickelt sich eine Affäre, denn zu mehr als Affären hat es bei Vogel bisher nicht gereicht, weil sie so gut wie völlig bindungsunfähig ist. Fast wider Willen verliebt sie sich in ihr Opfer. Als sie erfährt, dass er eigentlich in einer festen Beziehung ist, entdeckt sie zu ihrer eigenen Überraschung, dass sie eifersüchtig ist. Doch da er nicht bereit ist, sich von seiner Freundin zu trennen, fällt es ihr leicht, ihren ursprünglichen Plan weiter zu verfolgen.
Das Opfer ist ein brotloser Künstler, der, um sich über Wasser zu halten, in einer Bar jobbt. Zwar ist er aus gutem Hause und nimmt Vogel regelmäßig mit in das eine oder andere Loft oder Ferienhaus der Familie, aber an seiner Kunst hat er noch kein Geld verdient. Da bietet ihm ein alternder Künstler eine große Summe an, wenn er für eine Ausstellung in einer namhaften Galerie einige neue Werke unter seinem Namen anfertigt. Die Galerie wolle sein Gesamtwerk nur ausstellen, wenn auch neuere Werke darunter seien. Am Abend der Vernissage solle der Schwindel dann aufgedeckt werden.
Vogel ist in diesen Plan nicht eingeweiht. Sie wird kurzerhand am Abend der Vernissage als Begleitung beordert und auffällig eingekleidet und geschminkt, um dann vor Ort feststellen zu müssen, dass sie selbst auf einem der großformatigen Gemälde als Hermaphrodit abgebildet ist. In ihrer Wut zerschneidet sie die Leinwand mit ihrem Messer und flüchtet. Auf diese Reaktion hat der Künstler, der von dem Messer in ihrer Handtasche weiß, spekuliert. Er folgt ihr und will sich ihr aufdrängen. Sie tut so, als gebe sie nach, lockt ihn in eine Seitenstraße und ersticht ihn.
Beurteilung:
Eine Inhaltsangabe von „rauw & alsof“ wird dem Roman im Grunde nicht gerecht, da sein Reiz genau darin liegt, dass er rückwärts erzählt wird. Ausgehend von dem Mord wird in für die Affäre relevanten Etappen kapitelweise das Geschehen aufgerollt, unterbrochen durch einen zweiten, zwar chronologischen, aber lückenhaften Handlungsstrang, in dem durch Rückblenden in die nähere und fernere Vergangenheit die Beweggründe für die Tat deutlich werden. Zum Ende des Romans fallen die Handlungsstränge zeitlich zusammen.
Der*die Leser*in erfährt anekdotisch von Vogels Kindheit in einem gewalttätigen Umfeld, in dem Vater, der anderen gegenüber und manchmal auch seiner Familie gegenüber freundlich war, sobald er getrunken hatte, was mit den Jahren immer häufiger vorkam, jedoch völlig unberechenbar wurde. Vogels kleiner Bruder ist fünf Jahre jünger als sie und bekommt die Gewaltausbrüche häufig nicht mit, weil sie meist abends stattfinden, wenn er schon schläft, sodass die beiden eine sehr unterschiedliche Wahrnehmung ihres Vaters haben und sich dadurch entfremden. Auch von ihrer Mutter, die ihren Mann noch nach dessen Tod in Schutz nimmt, hat sie sich entfremdet.
Vogel hat nur eine Freundin, Misja, doch die glaubt ihr nicht, als sie ihr nach dem Tod des Vaters – er ertrinkt nach einem Sturz vom Fahrrad im Vollsuff in einer Pfütze – von dessen Gewaltexzessen berichtet. Sowieso haben sich die Freundinnen seit dem Studium auseinandergelebt, weil Misja wieder in ihr Heimatdorf zurückgezogen ist, wo sie ihren ersten Freund geheiratet und drei Kinder bekommen hat. An Vogels Leben nimmt sie nur noch sporadisch und meist aus der Ferne Anteil, sodass Vogel, die inzwischen Gymnasiallehrerin geworden ist, bis auf regelmäßige Bettgeschichten und zwei erfolglose Versuche einer längeren Beziehung, eigentlich die meiste Zeit allein ist.
„Rauw & alsof“ ist zwar ein Romandebüt, hat aber keine typischen Debütschwächen. Es hat einen originellen Aufbau, der konsequent und professionell durchgezogen ist. Jedes Kapitel, das jeweils eine Sequenz vor dem vorangegangenen umfasst, wird ergänzt durch ein „Dia“, eine Szene aus der näheren oder fernen Vergangenheit.
Die Figuren werden zwar nur skizziert und bleiben mehrheitlich namenlos, aber trotzdem erhält der*die Leser*in von jeder Figur, auch wenn sie nur eine der Bettgeschichten der Protagonistin ist, einen individuellen Eindruck, kann sich ein Bild machen von den Menschen, die in Vogels Leben nur durchlaufende Posten sind und an die meist nur eine gestohlene Kaffeetasse erinnert. Für die Protagonistin, von der der*die Leser*in von Anfang an weiß, dass sie einen Mann erstochen hat, entwickelt der*die Leser*in durchaus Sympathie. Dabei heischt sie nicht um Mitgefühl, sondern gibt einfach ihre Lebenswirklichkeit schonungslos und ungeschönt wieder.
Mit dem Mordopfer sympathisiert der*die Leser*n trotz seines gewaltsamen Endes nicht, sondern erkennt in ihm den einen weiteren Mann, der die Tatsache, dass die Protagonistin sich nur schwer binden kann, ausnutzt. Seine Überlebenschancen hätten sogar gut gestanden, wenn er sich ihr gegenüber korrekt verhalten hätte.
Sprachlich ist „rauw & alsof“ Präzisionsarbeit. Es wird kein Wort zu viel verloren, was sehr gut zu der Hast, Acht- und Lieblosigkeit passt, mit der die Protagonistin durch den Alltag hetzt.
Insgesamt ist es ein mitreißendes Buch, das zwar auch die fast schon klassisch zu nennenden Themen flämischer, aber auch niederländischer Romandebütantinnen, Landleben, Landflucht, Misshandlung, schwere Jugend, im Gepäck hat, den Schwerpunkt jedoch auf die Gegenwart legt.
Die Autorin:
Valerie Tack (*1981) ist Gymnasiallehrerin für Englisch und Niederländisch in Kuurne, Westflandern. „Rauw & alsof“ ist ihr Debütroman.
Christina Brunnenkamp | Kerkstraat 69 | 1082 Brüssel | Belgien
T: +32 (0)496 46 94 74
E: christina@textpuzzle.be
BE 0630 866 422