SOLANGE ER SICH erinnern konnte, empfand Leon mehr, als er sich anmerken ließ. Dadurch dachten die Leute, er sei ein starker Mann und besitze eine innere Kraft, die Trauer und Schmerz auf die eine oder andere Weise schneller verarbeite, als es die Zeit tut. Auch als er an einem rauen Herbstmorgen in einem Gartenstuhl saß und sein linker Arm schlaff neben der Armlehne herabhing, hätte ein Betreuer der Einrichtung gedacht, er ruhe sich aus oder schlafe sogar. Die Trittleiter, die Säge, und die zu Dreiviertel gestutzte Reihe Weiden würden ihn in diesem Gedanken bestärken, denn schließlich war Leon schon zweiundsechzig. Außerdem hatte man sich in dem Vierteljahrhundert, das er in der psychiatrischen Einrichtung verwahrt wurde, daran gewöhnt, dass er das Ergebnis seiner Arbeit von diesem Stuhl aus begutachtete. Aber Leon war übel. Schmerz pochte in seiner Hand, Blut tropfte aus seiner Faust und bildete eine Lache auf den Steinplatten unter dem Stuhl. In der Stille der Morgendämmerung, die noch nach Nacht duftete, verbiss er sich den Schmerz und wartete geduldig, bis die Übelkeit vorbeiging. Dann schlurfte er in die Werkstatt. Mit der Hand wischte er an den oberen Ecken des Fensterrahmens und unter der Fensterbank entlang und nahm dabei einige Spinnweben mit. Er drückte sie in die Wunde. Leon schwitzte stark und fühlte sein Herz heftig gegen seine Rippen klopfen. Das kam vom Kaffee, den das Küchenpersonal heute Morgen zu stark aufgebrüht hatte, sagte er sich. Er ging zurück zum Stuhl, ließ sich hineinfallen und betrachtete das doch sehr dunkle Blut.
Es war das zweite Mal in seinem Leben, dass Leon eine Blutlache sah. Beim ersten Mal war es Elsies Blut gewesen. Er war damals sechs, sie sechzehn. Sie passte öfter auf ihn auf und erlaubte ihm
Dinge, die ihm seine Eltern verboten: das Treppengeländer hinunterrutschen und auf dem Dachboden Verstecken spielen. Sie hatte sich angewöhnt, als Erste die Treppe hochzuklettern, um die
Dachbodenklappe zu öffnen und das Licht anzumachen. Dann kam sie wieder herunter und ließ ihn vor sich her die Treppe hinaufklettern. Oben half sie ihm durch die Dachbodenöffnung, indem sie ihn
mit beiden Händen an der Hüfte festhielt und sanft nach oben schob. Er fand es aufregend, dass sie Dinge tat, die er gerne tun wollte.
Sie hatte schwarzes Haar, das ihn an den Wangen kitzelten, wenn sie sich vorbeugte und mit ihrem Gesicht dem seinen nahekam. Alles an ihr duftete.
Jedes Mal, wenn Elsie auf ihn aufpasste, wünschte er sich, sie möge ihn nie wieder verlassen. Wenn sie zusammen zeichneten oder sie ihm aus einem der Bücher vorlas, das er nach langem Überlegen
ausgesucht hatte, suchten seine Augen durch die gläserne Schiebetür oft die protzige Uhr auf vier Marmorsäulen, die in der Mitte des Kaminsimses stand, und obwohl er sie noch nicht lesen konnte,
verstand er, dass sich die Zeiger gnadenlos immer weiterbewegten und das Ding ihm etwas von ihrem Zusammensein stahl. Das machte ihn traurig, noch bevor der Moment des Abschieds gekommen war.
Wenn sie da war, wurde die Uhr zu einem plumpen, tickenden Monstrum, auf das Elsie selbst ab und zu einen Blick warf. Einmal (nachdem sie zusammen getobt hatten und sie ihm erlaubt hatte, auf sie
zu klettern und ihre Arme in den Teppich zu drücken, um ihr zu zeigen, wie stark er schon war), als sie im Badezimmer ihr Haar in Ordnung brachte und er sie in den Sachen seiner Mutter kramen
hörte, versuchte er, das Ticken der Uhr anzuhalten. Er schob einen Stuhl näher heran und kletterte darauf. Seine Nase an die Scheibe gepresst, sah er, wie die Zeiger zitterten. Zwischen den
Säulen hindurch betastete er die Rückseite. Die Knöpfe schienen wie festgeklebt. Er versuchte, das Monstrum umzudrehen, mit den Zeigern in Richtung Schornstein, aber es gelang ihm nicht, das Ding
auch nur einen Zentimeter zu verschieben. Aus Wut schlug er gegen das gewölbte Glas und tat sich weh. Schließlich stieg er vom Stuhl, lief in die Küche, nahm ein Handtuch und drapierte es über
die Uhr. Das Ticken klang weiterhin in seinen Ohren. Elsie sah es sofort, als sie ins Wohnzimmer kam, die Haare straff zu einem Pferdeschwanz gebunden. Während sie miteinander über das mit dem
Handtuch bedeckte, tickende Monstrum auf dem Kaminsims lachten, ließ er sie nicht aus den Augen und fand seine Mutter alt.
An einem Samstag, als seine Eltern den ganzen Tag weg waren und erst spät zuhause sein würden, weil sie für den Abend Theaterkarten hatten, passierte es. Während er, hinter einem Kartonstapel
versteckt, aus dem Dachfenster zusah, wie die Sonne in einem orangeroten Schleier versank und das ohnehin schummerige Licht auf dem Dachboden dadurch noch schwächer wurde, fiel Elsie rücklings
durch die Treppenöffnung. Sie hatte vergessen, die Luke zuzuklappen. Mit einem Schrei - so schrill, dass er nur seine eigene Stimme in den Ohren widerhallen hörte - war er hinter den Kartons
hervorgesprungen, eine verschlissene Decke über dem Kopf. Dann sah und hörte er sie nicht mehr. Sie spielte mit, hatte sich sicher ihrerseits versteckt und wartete eine Gelegenheit ab, ihn zu
erschrecken, dachte er, immer noch mit der Decke über dem Kopf. Es fing an, in seinem Nacken zu jucken, und nachdem er noch eine ganze Weile gewartet hatte, zog er die Decke ab. Er merkte, dass
sie sich nicht in seiner Nähe befand und tippelte zu der Öffnung im Boden, in der Hoffnung, dass sie gleich daraus hervorspringen möge. Er rief ihren Namen. Bei der Luke angekommen, fiel sein
Blick nach unten und sah er sie dort liegen.
Während seine Füßen auf der obersten Stufe Halt suchten, ließ er sich auf dem Bauch über den hölzernen Rand des Treppenlochs gleiten. Seine Finger krümmten sich um das Holz. Als er festen
Untergrund fühlte, tastete er sich Stufe um Stufe nach unten, wobei er darauf achtete, das Geländer nicht loszulassen und Elsie und die anschwellende Blutlache um ihren Kopf im Auge zu behalten.
Als er endlich unten war, kniete er sich neben ihren Körper und kniff sie in den Arm. Ihr Hals sah länger aus, als wenn sie stand oder am Tisch saß.
"Elsie?"
Seine Finger zwickten in ihre Haut.
"Elsie?"
Er stand auf, packte beide Arme – die nicht zum Körper zu gehören schienen – und versuchte sie aufzurichten. Elsies Haare, schwer und dunkel vom Blut, zogen ihren Kopf nach hinten. Wieder fiel
ihm die Länge ihres Halses auf. Fast berührte das dickflüssige Blut seine Füße. Von dem Geruch wurde ihm übel. Er hatte nicht genug Kraft, um Elsie aufzurichten. Noch einmal ihren Namen, tief ins
Ohr. So wie Wasser über einem Abfluss Wirbel bildete, glaubte er, den Klang seiner Stimme in die Ohrmuschel strudeln zu sehen. Sie atmete tief und ruhig, das beruhigte ihn. Er wich nicht von
ihrer Seite, nicht einmal, um das Licht anzumachen.
Mit Fortschreiten des Abends änderten sich der Lichteinfall und damit auch die Farbe ihres Blutes. Als es Nacht wurde, konnte er Elsie nur noch atmen hören und riechen.
Leon hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als er das Auto seines Vaters hörte; die Türen, die schlugen; die Absätze auf dem Gehweg; den Schlüssel im Schloss der Haustür. Seine Muskeln
waren verkrampft, als er aufstand. Im halbdunklen Treppenhaus polterte er die Stufen hinunter. Als er die gedämpften Stimmen seiner Eltern auf der anderen Seite der Tür hörte, wurde ihm mit einem
Mal klar, dass er vor dem, was ihm bevorstand, eigentlich Angst haben müsste. Die Tür ging auf und seine Mutter tastete nach dem Lichtschalter. Ihr freudiger Gesichtsausdruck schwand, als sie
Leon sah. Er ging die Treppe hinunter, bis er vor seinen Eltern stand. Seine Mutter nahm seine Hände und hielt sie ins Licht. Dadurch sah er das getrocknete Blut an seinen Fingern und wich
zurück. Als sie sich vergewissert hatte, dass ihrem Sohn nichts fehlte und Elsie einfach nicht auf ihr Rufen reagierte, ging sie die Treppe hinauf. Im Licht des Treppenhauses sah Leon den
dunkelroten Streifen auf dem Geländer.
Elsies Sturz hatte ihr das Rückgrat gebrochen und die Blutungen in ihrem Gehirn hatten bleibende Schäden angerichtet. Wäre Hilfe früher zu Stelle gewesen, hätte sich der Schaden in Grenzen
gehalten. Das hatte ein Arzt nach langem Drängen von Elsies Mutter zugegeben, woraufhin diese eines Abends bei Leons Eltern klingelte und ihnen diese Tatsache in einer Mischung aus Wut und Trauer
mitteilte.
Elsie wurde ins Haus Windsbraut gebracht. Sie saß in einem Rollstuhl, sich selbst fremd. Ihre Lippen hingen schief, ihr Blick war trüb. Die Laute, die sie von sich gab, verstand niemand. Im Heim
schnitten sie ihr die Haare kurz.
Er stellte sie sich wie eine rote Tulpe vor, die Wasser bekam, aber kein Sonnenlicht.
LEON WAR IN Zeedorp aufgewachsen, einem kleinen Ort an einem gewaltigen Deich, der es vor der Westerschelde schützte. Er wurde in einer Gegend groß, in der die Stille der See
herrschte und der Wind die Bäume bog. Sein Vater arbeitete bei der Dow Chemical Group, einem internationalen Unternehmen mit Sitz in Terneuzen. Er war dort Produktionsarbeiter und würde das sein
ganzes Arbeitsleben lang bleiben. Seine Mutter, die manchmal strahlend und vor Energie sprühend und dann wieder schweigsam und melancholisch war, hatte vor ihrem Umzug nach Zeeuws-Vlaanderen
Bücher über die Geschichte der Gegend verschlungen. Als sie dann dort wohnten und ihr Haus eingerichtet war, nahm sie sich vor, dem lokalen Brauchtum neues Leben einzuhauchen. So organisierte sie
anfangs Wettkämpfe im Vogelschießen, zuerst mit der „stehenden Wippe“ und später mit der „liegenden Wippe“. Das waren Wettkämpfe, bei denen die Schützen mit Pfeil und Bogen Vögel von einem
Metallgestell schießen mussten, entweder oben an einem Mast oder in der Horizontalen. Ein paar Wochen später kam sie mit dem Vogelkegeln an: Ein Spiel, bei dem man mit einer Kugel Holzklötze
umkegeln musste. In ihren energiegeladenen Phasen, die manchmal monatelang anhielten, organisierte sie daneben noch Kartenspielabende und Country-Tanz. Sie war keine schöne Frau, aber ihre
Lebenslust und Willenskraft während dieser Perioden ließen aufmerksame Männer Tiefgang und Leidenschaft vermuten.
Wenn sein Vater Nachtschicht hatte, dachte Leon öfter darüber nach, wie es wäre, zu seiner Mutter ins Bett zu krabbeln. Dann würde er sich an sie kuscheln, ihren Arm nehmen und über seinen Bauch
legen. Doch er tat es nie.
Es geschah auch immer wieder, dass sie tagelang das Bett nicht verließ. An diesen langen Tagen, die immer häufiger vorkamen, als er älter wurde, verstand Leon nicht, was geschah und trottete
widerwillig und mit leerem Magen zur Schule.
Am ersten Schultag der vierten Klasse der Grundschule freundete er sich mit Bertrand an, einem neuen Jungen, klein gewachsen mit wachem Blick und schlackernden Hosenbeinen. Sie sahen einander auf
dem Pausenhof, schlenderten fast unbewusst aufeinander zu und blieben wie zwei Poller in einem Meer aus Beton etwa fünf Meter voneinander stehen. Sie betrachteten das vom Wind zusammengeblasene
Laub in den Ecken des Schulhofs und studierten ihre Atemwolken in der kalten Luft. Nach ein paar Minuten und vielen Seitenblicken gingen sie auf einander zu und begannen, sich zu unterhalten.
Bertrands Vater arbeitete auch bei der Dow Chemical Company. Seine Mutter war eine dicke Frau mit Zöpfen und er hatte auch noch eine ältere Schwester, Rosa, die er dumm fand.
Zwei Vorfälle zementierten ihre Freundschaft. Der erste ereignete sich, als sie eines Nachmittags beschlossen, durch ein Maisfeld zu rennen. Es war Anfang Herbst und das orangegelbe Mosaik reifer
Maiskolben quoll aus den fast drei Meter hohen Pflanzen hervor. Sie warfen ihre Räder am Feldrain ins Gras und sprangen über den Graben. Dann wählte jeder eine Reihe, sie sahen sich kurz an,
zählten bis drei und rannten so schnell sie konnten zwischen den riesigen Pflanzen bis zum Ende des Feldes, die Arme vor dem Gesicht zum Schutz gegen die scharfkantigen Blätter. Wer es am
längsten aushielt, denn Blut lief aus feinen Schnitten über ihre Arme, hatte gewonnen. Keiner der beiden wollte klein beigeben und so liefen sie weiter, bis der Mais endete und sie den Graben an
der anderen Seite erreichten, direkt in die Arme des Bauern und seines Helfers, die sich dort gerade eine Zigarette drehten. Der Helfer packte Bertrand am Kragen und gab ihm eine Ohrfeige. Leon
brach einen Maiskolben ab und warf ihn dem Mann an den Kopf, der daraufhin Bertrand losließ und nun auf Leon losging. Die Jungen machten kehrt, rasten zurück über das Feld, noch schneller als
zuvor, sprangen über den Graben und auf ihre Räder und flitzten Richtung Zeedorp, wo sie sich in Bertrands Badezimmer lachend das getrocknete Blut von den Armen wuschen.
Ein Jahr später, in der fünften Klasse, ereignete sich der zweite Vorfall. Ihre Klasse bestand aus zwölf Jungen, von denen nur einer der Anführer sein konnte, und das war Casimir. Casimir hatte
eine eklige Haut. Sein ungesundes Aussehen wurde noch dadurch unterstrichen, dass auf seinem Kopf an manchen Stellen weniger Haar wuchs. Es kursierte das Gerücht, dass er an einer unheilbaren
Krankheit leide. Aber diese Krankheit hielt ihn nicht davon ab, sich aufzuspielen und seiner Kraft und Waghalsigkeit tat sie auch keinen Abbruch. Als im März das jährliche Schulschwimmen wieder
begann und die Jungen in einem Bus zum Schwimmbad fuhren, setzte sich Casimir in die Mitte der Rückbank. Sein Gefolge ließ sich rechts und links von ihm nieder, und er streckte die Beine aus und
legte die Füße auf die Armlehnen der vorletzten Sitzreihe rechts und links des Ganges. Weil er zwar durchtrieben, aber nicht laut oder aufmüpfig war, ließ der Lehrer ihn gewähren. Leon und
Bertrand waren die Jungs und vor allem Casimir gleichgültig. Es war eine vorgetäuschte Gleichgültigkeit. Sie wussten, dass sie sich besser von ihm fernhalten sollten. Casimir selbst verstand
diese Strategie und tolerierte sie seinerseits. Weil aber Leon groß und zudem schweigsam war, spürte er, wie die Bedrohung vonseiten Casimirs zunahm. Er wusste, dass Casimir sich mit ihm messen
wollte, selbst aber auch davor zurückschreckte. Bei den Jungs in Casimirs Dunstkreis zirkulierte der Gedanke, Leon wäre ein würdiger Gegner.
Nach einer der Schwimmstunden stiegen alle aus dem Schwimmbecken und liefen wie immer durch die Duschen mit Klapptüren zurück in die Umkleide. Dort tunkte Casimir die Spitze seines Handtuchs in
eine Pfütze und machte die Runde, wobei er jedem einen Peitschenhieb auf den Hintern gab. Die kleinen Krater in seinem Gesicht wurden tiefer, wenn er im Kunstlicht der Umkleide grinste. Die Jungs
kreischten, sprangen auf und lachten den Schmerz weg. Sie versuchten, die Beine so schnell wie möglich in die Hosenbeine zu zwängen, aber der Stoff klebte an der feuchten Haut. Bertrand und Leon
zogen sich in der gegenüberliegenden Ecke um. Plötzlich stand Casimir, durch den feigen Mangel an Widerstand der anderen angespornt, vor Leon. Leons Lippen kribbelten. Seine Augen brannten noch
vom Chlorwasser. Er stand in der Unterhose da. Die Fliesen unter seinen Füßen waren von grauen Betonfugen durchzogen. Er glaubte zu spüren, wie deren Härte in seine Fußsohlen kroch. In diesem
Moment geschah etwas Seltsames mit ihm. Etwas, das er später nur als ein Gefühl, von der Zeit losgelöst zu sein, beschreiben konnte. Es war ein Gefühl der Unbesiegbarkeit, das er, wenn er es
gekonnt hätte, gerne für später irgendwo aufbewahrt hätte. Casimir handelte schnell. Er schlug nicht mit seinem Handtuch, sondern zog mit einem Ruck Leons Unterhose bis zu den Knien herunter.
Entgegen der erwarteten Explosion von Hohngelächter blieb es still. Leons Glied zog alle Blicke auf sich. Trotz seiner Schrumpeligkeit sah es beeindruckend aus. Selbst Casimir lachte nicht mehr.
Und dann nutzte Bertrand die Gunst der Stunde: Er stellte sich neben Leon, zog seine eigene Unterhose ebenfalls herunter und sagte spöttisch: "Und jetzt?"
Als sie in der Dämmerung durch die Straßen von Zeedorp streunten und noch einmal über die Ereignisse am Morgen in der Umkleide sprachen, während sich die Zweige der Weiden im Wind wiegten und in
der Ferne Hofhunde bellten, besiegelten sie ihre Freundschaft, wie es Jungen in der Vorpubertät eben so tun: Sie ritzten sich einen kleinen Schnitt in die Handinnenflächen und drückten sie
aufeinander.
ER BESUCHTE ELSIE jeden Samstag. Seine Eltern wollten das so. Erst ging er zusammen mit seiner Mutter, aber als er älter wurde, musste er alleine hin, meist mit dem Fahrrad. Sein
Vater kam nie mit. Wenn es regnete oder schneite, fuhren sie mit dem Auto. Seine Mutter ging dann einkaufen, während Leon durch die bleischweren Glastüren in die Eingangshalle von Haus Windsbraut
trat und über mehrere Treppen in einem endlosen Flur ankam, um dann vor der Tür des Zimmers 180 stehenzubleiben. Ohne anzuklopfen trat er ein. Klopfen kannte Elsie nicht. Das hatte ihm einmal
ihre Pflegerin Mathilda anvertraut, nachdem er minutenlang dort gestanden und gewartet hatte. Sie hatte mit dem Zeigefinger auf das Plastikplättchen neben der Tür getippt: Wenn das rote Lämpchen
nicht brannte, durfte er hineingehen. Er mochte Mathilda auf Anhieb.
Die Stühle im Zimmer waren ungewöhnlich hoch. Wenn er sich draufsetzte, kam er mit den Füßen nicht an den Boden. So vertrieb er sich die ersten paar Monate seiner Besuche die Zeit, indem er mit
den Beinen baumelte. Am Anfang traute er sich kaum, Elsie anzusehen und erst recht nicht anzufassen, denn obwohl er sich noch gut daran erinnerte, was sie zusammen gemacht hatten und wie es sich
anfühlte, auf ihrem Schoß zu sitzen und ihren Atem zu riechen, hatte er jetzt Angst vor ihr. Darum setzte er sich auf den Stuhl in der Zimmerecke, sah aus dem Fenster und träumte vor sich hin.
Oft wurde er durch einen Aufschrei oder Hustenanfall von Elsie aus seinem Tagtraum aufgeschreckt, wonach Speichel über ihr Kinn lief und eine Spur auf ihrem weißen Kleid hinterließ. Einmal, als
er dachte, sie würde an dem Hustenanfall ersticken und eine dunkle Flüssigkeit aus ihrem Mundwinkel tropfte, lief er vor Angst aus dem Zimmer, in Mathildas Arme. Ihr Kittel dämpfte sein
Schluchzen.
Er musste zwei Stunden bleiben, denn das entsprach ungefähr der Zeit, die seine Mutter brauchte, um ihren Einkaufszettel abzuarbeiten. Mit der Zeit blieb er immer länger. Bald merkte er, dass
Elsie zwar jemand anders geworden war, er aber keine Angst vor ihr zu haben brauchte. Durch diese Erkenntnis und die Unveränderlichkeit des Zimmers, dessen Einrichtung immer gleich blieb, wuchs
in ihm ein Gefühl der Geborgenheit. Er rückte seinen Stuhl in Elsies Nähe, manchmal lag sie im Bett, dann wieder saß sie im Rollstuhl am Fenster. Erst nahm er seine Malbücher mit und malte jene
Zeichnungen in ihrem Beisein aus, von denen er wusste, dass sie sie zusammen ausgesucht hätten. Auch die Farben, mit denen sie sie ausgemalt hätte - lavendel, violett, rosa - schob er ihr hin.
Als er älter wurde, brachte er Lesebücher mit. Dann las er schweigend, während er genau auf die Geräusche achtete, die Elsie machte. Noch später las er ihr vor, und erst, als seine Mutter
gestorben war, fing er an, mit ihr zu sprechen.
LEONS MUTTER ENTDECKTE ihr Interesse für Theater, und nachdem sie die Programmhefte der Theater von Antwerpen und Gent studiert hatte, beschloss sie, jeden Samstag eine
Aufführung zu besuchen. Sie ging schon frühmorgens aus dem Haus, um noch zu shoppen. Als Leon klein war, begleitete sein Vater sie. Es war nichts, worauf sich der Mann, kaputt von seinen
Nachtschichten, freute, aber zu dieser Zeit wirkte die Lebenslust seiner Frau noch ansteckend. Ihre Überzeugungskraft entsprang einer Kombination aus sanftem Zwang und unausgesprochenen
Erwartungen. Es kam öfter vor, dass Leon wach wurde, wenn sie gegen Mitternacht nach Hause kamen. Durch die Streben des Treppengeländers sah er, wie seine Mutter Elsie Geld gab und sie schnell
zur Tür hinausschob. Danach lauschte er den Geräuschen, die seine Eltern im Zimmer nebenan machten.
Nach Elsies Unfall blieb sein Vater zuhause, damit seine Mutter doch noch weggehen konnte. An diese Samstagabende erinnerte er sich noch gut. Am Anfang war er enttäuscht, dass Elsie nie mehr kam,
und manchmal ertappte er sich dabei, dass er seinen Vater ansah und Ärger in ihm aufwallte, nur weil der Mann da saß. Er versuchte, sich auf das zu konzentrieren, womit er gerade beschäftigt war,
aber das Seufzen seines Vaters, der auf dem Sofa saß, und das Geräusch, das dieser machte, wenn er aufstehen musste, um am Fernseher einen anderen Senderknopf zu drücken, gingen ihm auf die
Nerven. Dann stand er auf und ging in sein Zimmer.
Später blieb er den ganzen Abend oben.
In seinem letzten Grundschuljahr kam Bertrand regelmäßig mittwochs mit ihm nach Hause, um Hausaufgaben zu machen. Sie aßen erst Brote und Suppe, die Leons Mutter ihnen immer in geblümten Schalen
servierte. An einem dieser Mittage, die feuchte Kälte war bis in die Garage gedrungen, wo Leon sein Fahrrad abstellte, beschlich ihn das Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung sei. Am Morgen war
seine Mutter nicht aus dem Bett gekommen. Da das schon öfter passiert war, wusste er um ihren Gemütszustand und ließ sie in Ruhe. Er frühstückte dann alleine. Den ganzen Morgen in der Schule
grübelte er, ob er Bertrand wohl mit nach Hause nehmen solle oder lieber nicht. Als sie mit dem Fahrrad zuhause ankamen, mit Kopfschmerzen vom Nordwind, der in Böen über die Polder fegte, sah er,
dass die Vorhänge ihres Schlafzimmers immer noch zu waren. Er dachte, seine Mutter läge noch im Bett und hatte vor, Bertrand kurz in der Küche allein zu lassen, um oben nachzusehen, wie es ihr
ginge. Aber als sie ihre Jacken an der Garderobe aufgehängt hatten und Bertrand vor ihm die Küchentür öffnete, erschrak er. Sie stolzierte nackt durch die Küche. Eine Zigarette qualmte im
Aschenbecher auf dem Tisch; eine Zeitschrift lag zerrissen auf dem Boden. Aus dem Wohnzimmer drang leise Musik. Sie öffnete einen Schrank nach dem anderen, inspizierte den Inhalt, fand nicht, was
sie suchte und knallte die Schranktür wieder zu. Die lila Vase, die auf dem Schrank stand, wackelte auf ihrem Fuß. Dann die Schubladen. Metallgeklimper. Die ganze Zeit war sie nackt und Bertrand
starrte sie gebannt an. Sie hatte rote Striemen an Kopf und Schultern, vom Kratzen, denn er sah auch die weißen Linien, die ihre Nägel hinterlassen hatten. Leon lief ins Badezimmer, griff sich
einen Bademantel und legte ihn ihr um die Schultern. Sie sah durch ihn hindurch. Sie kniff ihre Augen zu. Er sah, dass sie weinte und wollte sie am Ellenbogen die Treppe hoch ins Schlafzimmer
führen. Sie wehrte sich, schlug ihm sogar ins Gesicht. Unsanft schob er sie nach oben.
Sein Leben lang nahm er etwas als gegeben hin, von dem er glaubte, dass sie es damals gesagt hätte, auch wenn er sich nicht sicher war, ob sie die Worte tatsächlich ausgesprochen hatte. Er
dachte, dass sie ihm damals ins Ohr geflüstert hatte: Ein Mensch stirbt immer in den eigenen Armen.
Bertrand stand noch immer auf derselben Fliese, verlegen, aber auch belustigt über das Bild, das sich ihm geboten hatte. Leon schickte ihn nach Hause.
An jenem Nachmittag schloss er sich in sein Zimmer ein und kam erst heraus, als sein Vater nach Hause kam.
Einmal nahm er Bertrand mit zu Elsie. Das war in den Sommermonaten, bevor sie aufs Gymnasium gehen sollten. Während der Fahrt dorthin sprach Bertrand über ein Buch, das er gerade las. Bücher
interessierten Leon auch, aber Bertrand entwickelte eine Faszination für Geschichten, die so groß war, dass Leon manchmal neidisch wurde, zum einen darauf, dass sein Freund sich so
leidenschaftlich in etwas vertiefen und zum anderen, dass er so interessant darüber erzählen konnte. Leon versuchte dann seinerseits, über ein Buch zu erzählen, aber es gelang ihm nie, mit
genauso viel Leidenschaft wie Bertrand darüber zu sprechen, und schon bald unterbrach dieser ihn und sie sprachen über etwas Anderes. Immer, wenn er zum Haus Windsbraut radelte, richtete Leon
seinen Blick auf den leeren, grenzenlosen Himmel über Zeedorp: die graue Düsterkeit im Herbst und Winter, das tiefe Blau im Frühling und im Sommer, und auf den Feldern die reifende Ernte, die
sich wie ein Lebewesen im immer wehenden Wind bewegte. Er begriff, wie klein er war, wie klein sein neben ihm radelnder Freund, und wie groß ihre Freundschaft.
Elsie saß im Licht. Mathilda hatte sie ans Fenster gestellt, mit den Pantoffeln an den Rippen des Heizkörpers. Draußen wie drinnen war es warm, aber Elsie fror. Sie rührte sich nicht, als die
Jungen sie begrüßten. Einige Haarsträhnen hingen lose über ihre Ohren, ihre Nägel waren lavendelfarben lackiert. Das war ihre Farbe. Das wusste Leon noch von früher. Bertrand setzte sich
unbehaglich auf den Stuhl in der Ecke, auf dem Leon selbst jahrelang gesessen hatte. Leon setzte sich auf einen Hocker neben Elsie und las ihr einen Artikel aus einer Zeitschrift für junge Frauen
vor, in dem es ums Lernen und um Mode ging. Es standen Wörter darin, die er nicht kannte. Sie war in jenem Monat zweiundzwanzig geworden. Bertrand blieb die ganze Zeit still auf seinem Stuhl
sitzen. Als sie eine Stunde später nach Hause radelten, sprach Leon mehr als gewöhnlich. Er fühlte sich erleichtert. Kurz bevor sich ihre Wege trennten, sagte Bertrand, dass er wolle beim
nächsten Mal lieber nicht mehr mitkommen.
Bei seinen Besuchen im Haus Windsbraut fiel Leon auf, dass Elsie jetzt anders roch. Mathilda erzählte ihm, Elsie sei jetzt eine junge Frau, und darum habe sie auf ihren Handgelenken und an ihrem
Hals Parfum versprüht. Es waren Düfte, die nicht zu ihr passten, fand Leon.
EINE WOCHE NACH seinem zwölften Geburtstag lag Leons Mutter tot im Bett. Er wollte sich nicht eingestehen, dass er innerlich zerbrochen war. Bewusst war ihm hingegen die Empörung
und später auch die Wut, dass Trauer schon so früh den Weg in sein Leben gefunden hatte. Als er nach der Beerdigung in ihr Zimmer ging und in den Spiegel an ihrem Schrank blickte, erschrak er
nicht: Sein Gesicht sah wie versteinert aus. Im Alter von zwölf Jahren hatte er kleine Falten. Er nahm ihren Bademantel in die Hand und roch daran. In den letzten Jahren hatte er sich daran
gewöhnt, dass seine Mutter krank war. Sie konnte den Wind nicht mehr vertragen. Ihre Haut schrumpfte, spannte sich im gnadenlosen Lauf der Jahre immer straffer über ihre Schläfen. Sie war oft von
roten Flecken übersät, vor allem an den Augenrändern, so dass es aussah, als ob sie eine bösartige Maske trüge. Sie trank und schluckte Pillen. Sie kaufte die merkwürdigsten Gegenstände. Leons
Vater packte die Verzweiflung, als er sah, wie sich seine Ersparnisse verflüchtigten. Er eröffnete schnell ein neues Konto ausschließlich auf seinen Namen und überwies, was noch übrig war. Sie
wurde fuchsteufelswild, als sie es erfuhr und kratzte ihm fast die Augen aus. Leon musste immer öfter einschreiten; er konnte sie letzten Endes immer beruhigen und brachte sie dann nach oben.
Wieder unten setzte er sich dann neben seinen Vater auf die Couch, der schluchzte wie ein Kind.
Diese Vorfälle entfremdeten Leon von seinem eigenen Leben. Unzählige Male sah er sich wie aus der Ferne: der große Junge mit dem dunkelblonden Haar; seine Haut zerfurcht, gebräunt und verwittert
durch den Wind, mit einem Gesicht aus Stein.
DAS ROTE LÄMPCHEN brannte nicht.
"Weißt du noch, Elsie, dass du mich einmal hinten auf dem Fahrrad mitgenommen hast? Meine Eltern waren gerade erst weg, als du mir in geheimnistuerischem Ton mitteiltest, dass wir ins Dorf fahren
würden. Es war im Mai und überall, wo wir vorbeikamen, steckten kleine Vögel ihre Köpfchen aus den Nistkästen, vor allem Kohlmeisen. Du kamst immer zu Fuß, aber an dem Tag hattest du dein Fahrrad
dabei und hattest es hinter der Hecke vor meinen Eltern versteckt. Du bist als Erste aufgestiegen und hast mich dann aufgefordert, mich auf den Gepäckträger zu setzen. Du hast mich sicher zehnmal
ermahnt, ich solle aufpassen wegen der Speichen und die Füße weit vom Hinterrad weg halten. Unterwegs drückte das Eisengestell des Gepäckträgers in meinen Po. Das tat weh. Ich hielt mich an
deinen Hüften fest, schmiegte meine Wange an deinen Rücken. Manchmal hast du mit einer Hand gelenkt und mir einen Moment die andere überlassen. Nach einer Weile hast du geschnauft und gerufen, du
seist froh, dass die Polder so flach seien. Weißt du das noch, Elsie? Ich weiß, dass ich während der ganzen Fahrt still war, aber innerlich vor Freude jubelte. Als wir auf einem Schleichweg neben
einer Baumreihe über Schotter einen Hügel hinunterfuhren, schwanktest du gefährlich. Ich bereitete mich schon auf den Absprung vor, indem ich die Beine ausstreckte. Aber wir fielen nicht. Als wir
am Friedhof von Kloosterzande vorbeifuhren, spürte ich meinen Po nicht mehr. Der Schmerz war weg. Auf dem Parkplatz vor der Kirche hast du angehalten und mir befohlen abzusteigen. Meine Beine
konnten mein Gewicht kaum tragen, meine Knie knickten ein. Du sagtest, ich solle mich kurz hinsetzen, bis die Taubheit vorbeiginge und wieder Blut durch meine Beine strömen würde. Während du das
sagtest, suchte dein Blick jemanden oder etwas. Das fand ich seltsam. Die Kirchenglocken schlugen zehn Mal. Und dann erschien dieser Junge. Er war zu Fuß gekommen. Ein großer Junge mit langem,
dunkelbraunem Haar. Weißt du das noch, Elsie? Er fummelte an dir rum und küsste dich. Die maßlose Freude, die ich noch kurz zuvor empfunden hatte, war mit einem Schlag verschwunden. Ich wünschte
dem Jungen den Tod, denn ich wusste, dass alles, was verschwindet, Platz macht für Neues."
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