Freitag
Jonas, 06:42, Wohnung
Ich habe gerade meinen Hund abgeknallt und an die Fische verfüttert. Ein gezielter Schuss zwischen die Augen. Dass ich das konnte.
Wieder nach Hause zu kommen, na ja, was man so Zuhause nennt, hat mich viel Mühe gekostet. Hier sitze ich jetzt auf dem Ledersofa, perlmuttfarben, wie die Verkäuferin mir mit samtener Stimme
verraten hatte. Mein Gesicht ist der Tür zugewandt, die in den Flur dieser Wohnung führt, in diesem Gebäude, in dieser Stadt.
Diese furchtbare Stadt. Eine zersprungene Perle an der Küste dieses platten Landes. Einsamkeit hängt hier selbst bei gutem Wetter wie Smog in den Straßen. Alte Leute schlurfen mit ihrem Gehstock
oder Rollator als einzigem Gefährten über den Bürgersteig. Andere, die mit sich und ihrem wurmstichigen Leben noch ein wenig mehr anzufangen wissen, ziehen mühsam Einkaufstrolleys mit Essbarem,
Getränken, Katzenfutter und überflüssigem Ramsch hinter sich her, zu dessen Kauf sie sich durch trügerische Slogans haben verführen lassen. Der Mensch lässt sich einfach zu gern für dumm
verkaufen. Mit gewisser Regelmäßigkeit verarscht zu werden, gibt eben auch Halt. Sobald die Sonne hier ihr wässriges Frühlingslicht über die verfallenen, leerstehenden Gebäude drapiert, tauchen
sie auf der Strandpromenade auf: frühverrentete Männer mit schlechtsitzenden Shorts und den dazugehörigen unmöglichen Socken. Mit ihren spitzen Knien, Krampfadern und der zu bleichen Haut gehen
sie schweigend neben ihren besseren Hälften her, in Leggings gepresst, die ihre zu dicken Bäuche und Hintern betonen, oder in Trainingsanzügen in fahlen Farben und T-Shirts mit fremdsprachigen
Aufschriften, die sie nicht verstehen. Wenn doch ist unbegreiflich, dass sie sie tragen. Diese Stadt ist die Mutter des schlechten Geschmacks.
Und doch liebe ich diesen Ort, meine Wohnung mit Blick auf den Yachthafen. In der Ferne sieht man das Meer. Abends klimpern die Ringe der Segelleinen an den Masten eine leise Symphonie, die immer
wieder anders klingt. Die Möwen gleiten darüber hinweg, als tanzten sie ihren letzten Walzer. Es ist das tröstlichste Geräusch, das ich kenne.
Seit ich mit sieben barfuß und im Schlafanzug versucht habe, am offenen Fenster die Lichter am Uferweg zu zählen. In dem Schlafanzug mit Bärenmotiv, den Mama mit einem dunkelblauen Bündchen mit
gelben Sternen gesäumt hatte. Papas Hand, die mein Haar streichelte, sein Oberschenkel, an dem ich lehnte, der Reinigungsgeruch, der von seiner Hose ausging. Papa, der neben mir stand und
schwieg. Es war schon genug gebrüllt worden in der vergangenen Stunde. Gleich nach dem Kinderprogramm mit der tickenden Uhr und dem Hund, der im Vorspann manchmal, nicht immer, zwischen den
Schäfchen stand. Worüber sie genau stritten, habe ich vergessen. Ich erinnere mich vor allem noch an die Farben: Das Gelb der Sterne auf der blauen Borte, das Grau von Papas Hose, ein Grau, bei
dem man an Nacht denkt, das Dunkelbraun des Geschirrschranks, auf dem die weißmarmornen Skulpturen standen. Frauentorsos mit Brüsten ohne Brustwarzen. Weiße, blanke Brüste. Weiß auch ihr
Venushügel. Wunderschönes Wort übrigens, wo ich jetzt so darüber nachdenke. Venushügel. Und dann das Rot von Mamas Gesicht. Purpurrot. „Dann bleib eben hier. Aber du sorgst dafür, dass er
Montagmorgen zurück ist, vor acht Uhr. Gewaschen und gekämmt!“ Das schrie sie Papa ins Gesicht, dann ging sie. Sie warf die Tür hinter sich zu. Papa ging in die Küche und begann abzuspülen. Ich
stand am offenen Fenster und lauschte den Segelleinen. Seltsam, was ein Kind behält, um andere Dinge zu vergessen. Wie wir unsere Erinnerungsschubladen mit trivialem Kleinkram füllen. Das
Gedächtnis spielt ein seltsames Spiel mit der Wahrheit. Es vertuscht, vergrößert, verbirgt, betrügt uns schamlos.
Liebe und Hass zu dieser Stadt. Heute ist es Hass. Ich habe heute Morgen meinen Hund am Strand erschossen und an die Fische verfüttert. Nur die Königin der Badeorte mit ihrer Ebbe und Flut ist
dreckig und nuttig genug, um ihn, Tristan, den lieben, braven dreijährigen Rüden, in ihren Fluten zu verschlingen. Das Tier konnte nichts dafür. Das Tier war auch nicht schuld daran, dass es
alles gesehen hat. Der Kronzeuge der niedrigsten meiner Taten. Mit seinen treuen Hundeaugen hat er jedes Detail wahrgenommen. Das Tier schon. Ich nicht. Dass das alles für immer in seinem Kopf
gespeichert bliebe und ich jedes Mal, wenn er seine Schnauze gutmütig auf meinen Schoß legt und leise jaulend um Streicheleinheiten bettelt, daran erinnert würde – genau das konnte ich nicht mehr
ertragen.
Heute Morgen, frühmorgens. Es dämmerte noch. Kein Mensch auf der Straße. Nur ein alter Fischer, der das Deck seines Bootes schrubbte.
„So früh aus der Falle?“ Ich wusste nicht, ob das eine Frage war oder eine Feststellung. Es klang jedenfalls so, als seien Menschen Ungeziefer.
„Ja“, sagte ich.
„Die schönste Zeit des Tages. Das Licht fällt dann so schön aufs Wasser. Dann liegt Silber auf der See.“ An diesem Fischer war ein Dichter verloren gegangen.
„Glaub ich gern.“
Dem Mann schien plötzlich aufzugehen, dass seine Worte unter den gegebenen Umständen verletzend sein könnten, denn er verschob seinen Eimer, tauchte den Schrubber hinein und schrubbte weiter.
Danach rief er noch was, vielleicht um es wieder gut zu machen, etwas übers Wetter, kaum hörbar. Nicht alle Worte erreichten den Anleger. Ich spazierte mit Tristan an dem blaugrün und rotglänzend
geziegelten Paravent mit dem Satteldach, den stolzen Fialen und protzigen Kapitellen vorbei, aus einer Zeit, als hier die Herrschaften von Stand zum großen Schaulaufen zusammenkamen. Das Weiß der
reichlich vorhandenen Rosetten und Muscheln blendet schmerzhaft, sagte Papa kürzlich noch. Nach dem Paravent kommt die Bronzestatue eines leicht gebeugten Riesenharlekins. Ein trauriger Gaukler,
an den viele Hunde zu pinkeln pflegen. Nicht so Tristan. Mein Tristan kennt seinen Platz in der Welt. Vorbildlich lief er das steile Stück zur Strandpromenade neben mir hinauf und brachte mich
folgsam bis zu den Stufen, die zum Strand hinunterführen. Ich hatte meine Wanderschuhe an, deshalb wird er mit einem ordentlichen Marsch gerechnet haben. Wir gingen ans Wasser. Es war Ebbe.
Beherrscht lief er neben mir. Kein wildes Schwanzwedeln und ausgelassenes Herumtollen in den heranrollenden Wellen. Der Hund führt. Am Wasser blieb er ruhig vor mir sitzen. So gehorsam. Ich war
erstaunt, dass ich es konnte. Eine Kugel zwischen seine Augen. Ich habe ihn ins Wasser geschleift, als Futter für die Fische.
Ich hasse den Strand. Oh du wunderschöne Stadt.
Abigaïl, 08:12, Tempel
Abigaïl sitzt am Frühstückstisch, den sie am Vorabend für sich gedeckt hat, und hält einen Briefumschlag in der Hand. Das Logo prangt herausfordernd in der linken oberen Ecke. Sie öffnet ihn mit
der Messerspitze. Sie will den Brief sofort herausziehen, zögert, schiebt ihn wieder zurück. Sie trinkt einen Schluck Kaffee und sieht aus dem Fenster. Ganz in der Nähe ist die Terrasse. Die
Buchsbaumhecke ist hoch geworden, eine dunkle Moosschicht bedeckt die steinernen Statuen. Die Ziersträucher am Pool stehen in voller Frühlingsblüte. Auf dem Pool liegt noch die Winterabdeckung.
Der Wind hat einige Blätter an den Sprungbrettstufen aufgehäuft. Etwas weiter weg liegt der Teich, in dem das vorige Woche fertiggestellte Wasserspiel das Wasser in einem anmutigen Bogen aus den
Mündern von Meerjungfrauen auf ein Seerosenbett sprudeln lässt. Ganz hinten steht das Gartenhaus. Die Kletterhortensie wuchert zwischen den Pergolastreben hindurch und wirft mit ihren forschen,
frischgrünen Blättern Schatten auf den Gartentisch darunter. Abigaïl betrachtet das alles andächtig, den Umschlag in der Hand. Sie sieht ihn so konzentriert an, dass ihr Kopf zu kribbeln beginnt.
Nadelstiche. Ein aufmerksamer Beobachter könnte sehen, dass ihre Hände zittern. Sie wirft wieder einen Blick auf das Logo, trinkt noch einen Schluck Kaffee. Im Vorratsraum summt der Kühlschrank.
Dann nimmt sie den Brief heraus, faltet ihn auf, legt ihn vor sich hin. Sie streicht ihn langsam glatt. Eine zarte Berührung mit der flachen Hand, ein Versuch, den Inhalt doch noch zu verändern,
den Ton günstig zu stimmen. Sie überfliegt den Text. Die letzten drei Sätze liest sie Wort für Wort. Noch einmal. Und noch einmal.
Sie steht auf, geht zum Geschirrschrank, vor dem ihre Ledertasche steht. Ein Geburtstagsgeschenk ihres Mannes von vor langer Zeit. Sie hatte die Tasche selbst gekauft. Beim Abendessen hatte sie
sie ihm gegeben. Er hatte sie ihr dann zurückgeschenkt, auf ihren Teller gelegt, als sie auf der Toilette war, als ob sie ein echtes Geschenk von ihm wäre. So machten sie das damals. Es sollte
das letzte Mal gewesen sein, dass sie zusammen auswärts essen gingen.
Langsam öffnet sie die Tasche aus sehr feinem italienischen Leder mit dem schlichten, goldenen Metallverschluss, als könne sie dadurch Zeit gewinnen. Sie lässt den Brief zwischen verschiedene
Mappen gleiten, schließt die Tasche, nimmt sie mit zur Garderobe, zieht dort ihre beigen Pumps an, nimmt eine Jacke vom Bügel, legt sie über den Arm und geht zur Garage. Der Rover springt sofort
an, das Garagentor gleitet auf. Sie fährt über die Auffahrt auf die Straße. Die Außenwelt gähnt. Der versprochene Sonnenschein schneidet mit messerscharfen, schmalen Strahlen durchs Blattwerk.
Und dennoch findet sie alles dunkel, dort in Opperborg.
Jonas, 08:24, Wohnung
Mir tut der Nacken weh. Meine Hände jucken. Ich weiß nicht, wie lange ich hier schon sitze und Richtung Flurtür starre. Krampfhaft auf etwas zu warten, das nicht kommt, ruiniert das Zeitgefühl.
Ich muss meine Wanderschuhe noch wegräumen. Ich habe sie mir vorhin vom Fuß gerissen und irgendwohin geschleudert. Das ist sonst überhaupt nicht meine Art.
Trotzdem bleibe ich sitzen. Will nicht ins Schlafzimmer. Da ist Anouk noch zu präsent. Vielleicht ist es ihr Parfum oder der Klang ihrer Stimme – leichthin zu Beginn des Abends, als der Ton noch
zärtlich war, oder ihr schrilles Entsetzen, ihr Geschrei ganz am Ende. Es schwingt etwas nach zwischen den sich windenden Blumenranken auf der Samttapete. Wie oft habe ich das Muster mit den
Fingern nachgefahren? Jetzt zerrt es an meinen Nerven, zeigt mir, dass sie nicht so gegangen ist, wie ich es gewollt hätte.
Ich muss mich zwingen, den Blick nicht mehr auf die Tür zu richten, warum sollte ich auch. Als ob sie einfach so wieder da stehen würde. Als ob ich jetzt noch auch nur irgendetwas erwarten
könnte.
Man kann die Menschen in zwei Gruppen aufteilen. Die einen sind das Resultat eines Plans, bei dem Gewinn und Verlust gut gegeneinander abgewogen wurden. Die anderen sin aus einem unbesonnenen
Trieb heraus gezeugt worden, wobei Geilheit, Schweiß und Blut Menschen zu Dingen verführt, die sie sich im Nachhinein oft vorwerfen. Ich gehöre definitiv zur ersten Gruppe.
Im Falle meiner Mutter kann man sogar von einem besonders raffinierten Netz aus Gedankengängen ausgehen. Meine Mutter heißt Abigaïl de Martelaere, was Märtyrer bedeutet, aber man darf sich von
diesem Nachnamen nicht in die Irre führen lassen.
Es muss alles auf dem Fest – ich nenne es einfach mal „Fest“ – angefangen haben, bei dem sich die de Martelaeres im elterlichen Haus, dem Jugendstil-Hotel in der Hauptstadt, zum Essen
zusammenfanden, um der verstorbenen Oma de Martelaere zu gedenken. Mich gab es damals noch nicht, jedenfalls nicht in körperlicher Form als konkretes Lebewesen. Aber wann beginnen wir eigentlich
zu existieren? In dem Moment, in dem zwei Zellen miteinander verschmelzen?
Oder vielleicht schon viel früher, in einem früheren Moment, in dem ein flüchtiger Gedanke, ein laut ausgesprochenes Wort, ein hastig hinzugefügter Nachsatz schon von einem handeln?
Um meine Oma kam man nicht umhin, auch wenn sie nicht mehr da war. Über dem Kamin in der Hotellobby hing ein Portrait von ihr, das so riesig war, das man es nicht übersehen konnte: Opas Wunsch,
er liebte diese Art von Grandeur. Das Portrait hatte einst ein befreundeter Künstler gemalt. Oma hatte in einem riesigen Lehnsessel posiert, der zwischen zwei Porzellanvasen mit
überdimensionierten Blumensträußen stand. Sie sah geradeaus, die Hände im Schoß gefaltet. Ein warmer Blick, ein feines Lächeln um die Lippen, schmale Schultern, womöglich schon von der
schleichenden Krankheit gezeichnet, die zu ihrem qualvollen Tod führen würde. Opa hatte das Gemälde anfertigen lassen, nachdem er erfahren hatte, an welcher Krankheit seine Frau litt. Und obwohl
der Künstler ein Freund gewesen war, hatte ein dickes Bündel Scheine den Besitzer gewechselt, damit es so schnell wie möglich fertig würde. Seine Ohnmacht hatte Opa angetrieben. Der hoffnungslose
Sprint eines Sterblichen gegen die rasende Erosion des Lebens.
Ich habe meine Oma nie kennengelernt, aber oft vor dem Gemälde mit ihrem Bildnis gestanden. Etwas an ihren Augen war merkwürdig. Als ob sie durch einen hindurchsehe. Einmal sagte ich meiner
Mutter, dass ich ein bisschen Angst vor ihr hätte. Sie antwortete: „Manchmal wünsche ich mir, dass Oma noch lebt. Dass sie sich aus dem Sessel erhebt, eine der Rosen aus dem Strauß zieht und sich
ins Haar steckt wie sooft früher, und dann könnte ich ihr sagen, dass du Jonas bist, ihr schönster Enkel.“ Während sie noch übers Haar strich, drang die Absurdität ihrer Worte bis zu mir durch.
War ich doch ihr einziger Enkel. Aber ich sagte nichts.
Omas Todestag wurde bei den de Martelaeres jährlich gedacht. Papa fand es damals lächerlich, dass Opa immer von den de Martelaeres sprach, im Plural, als ob es um eine kinderreiche Familie mit
zahlreichen Nachkommen ginge. Es sagt viel über den Wunsch des alten Mannes, dem aristokratischen Stammbaum seiner Vorfahren einen kräftigen Ast, vor allem aus Söhnen und den dazugehörigen
frivolen Schwiegertöchtern, hinzufügen zu wollen. Die frühe Diagnose von Omas Krankheit untergrub seinen Traum. Statt eines kräftigen Asts würde er sich mit einem Zweig namens Abigaïl
zufriedengeben müssen. Um bei dem Diner doch den Eindruck einer umfangreichen Familie zu erwecken, wurden zum Gedenktag auch immer der Oberkellner und seine Frau eingeladen.
Bei diesem ersten Festmahl zu Omas Ehren bestand Opa de Martelaere darauf, dass das Diner am großen Gästetisch im Hotelrestaurant serviert würde. Das Haus wurde an jenem Tag geschlossen.
Zusätzliches Personal wurde zusammengetrommelt, um schon frühmorgens mit dem Großreinemachen zu beginnen, das Hotel einmal gut zu lüften, die Kronleuchter abzustauben, die Keller aufzuräumen, die
Küche von oben bis unten zu desinfizieren, das Kupfer zu putzen und alle Leitungen zu entkalken. Die Buchstaben auf dem Aushängeschild über dem massiveichenen Eingang wurden mit Goldfarbe neu
gemalt. Der Todestag seiner Frau war für Opa ein Putztag. Vergolde, was verschwindet. Als wolle er die ganze schlechte Luft, die die Zigarren rauchenden Börsenmakler mit ihren Mätressen hinter
den Hotelzimmertüren verströmt hatten, die schmutzigen Geschäfte, die an der Bar besprochen und mit Hochprozentigem begossen worden waren, die Fingerabdrücke, die auf den Weingläsern der sich
beim Frühstück mit erloschenen Gesichter gegenüber sitzenden Eheleute zurückgeblieben waren, als wolle er all das zu Ehren seiner zu früh verstorbenen Frau säubern und von Grund auf reinigen.
Am Kopf der Tafel saß Opa. Es wurde Hummer serviert – kein Fest ohne, immer „Belle Vue“. Man sprach über Alltagssorgen. Opa schwieg. So war es immer. Gegenüber seinen Gästen war er herzlich,
jovial, gegenüber seinem Personal resolut und korrekt, im Kokon seiner Kleinfamilie steif und schweigsam. Er wahrte die Stille bei den Kalbsnieren in Rotweinsoße und dem Lammkarree mit
Gemüsegarnitur bis zum Dessert. Beim Einschenken des Dessertweins stand Papa, der allen gerade erst als Karel Van Immerseel – Mamas Freund – vorgestellt worden war, auf, entschuldigte sich und
entschwand zu einem dringenden Toilettenbesuch. Das Gespräch kam zum Erliegen. Der Raum füllte sich sofort mit dem Geräuschteppich, der mit so einem unvorhergesehenen Verstummen einhergeht.
Kratzendes Besteck auf Porzellantellern, ein Ehering, der gegen ein Glas klirrt, eine Serviette, die auf den Boden gleitet, ja, sogar das kann man dann hören, das Verrücken eines Stuhls. Dann
ergriff Opa das Wort. „Deine Mutter, Gott hab sie selig ...“, er schwieg kurz, um sich zu vergewissern, dass alle aufmerksam zuhörten, dass niemand mehr kaute, sich niemand mehr rührte, kaum noch
geblinzelt wurde, dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren.
„Deine Mutter, Gott hab sie selig, hat immer gewollt, dass der Besitz, die Gelder und Grundstücke, die auf ihren Namen eingetragen worden sind, freigegeben werden, sobald es ein Enkelkind gibt.
Vorher soll nicht ein Cent ausbezahlt werden. Du weißt also, was von dir erwartet wird.“
„Ist es viel?“, fragte Mama.
„Ja“, sagte der alte de Martelaere. „Aber da ist noch etwas. Ich will, dass das Kind einen Vater hat. Nicht dieses moderne Getue. Ich kenne dich schließlich ein bisschen.“ Ganz kurz legte er die
Hand auf ihre Schulter, eine Geste, die sich ihr sofort eingebrannt haben muss, in ihr Gehirn, die kleinen Nervenbahnen, die von dort ausgehen, um auf winzigen Schleichwegen bis in all ihre Adern
und Organe zu gelangen wie Spinnenseide, wie ein ihr ganzes Wesen durchdringendes Netz.
Papa kam wieder herein. „Das Gemälde von der Frau im Flur“, sagte er zögernd, „ist schön. Sie guckt so, wie soll ich sagen, liebenswert.“
Papa. Er war die Fliege, der es vorherbestimmt war, in ihrem Netz zu landen. Nennen wir es naive Unschuld oder reine Dummheit – auf der Waagschale seines Glücks macht das kaum einen
Unterschied.
Papa. Es hat mir gutgetan, heute Nacht kurz seine Stimme zu hören. So weit weg. Immer so weit weg.
Für andere Menschen scheint es einfach zu sein. Zu verschwinden.
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