1
Noch fünf Minuten, bis der Kampf beginnt. Rein ist bereit. Kopfhörer auf. Mikrofon an. Sixpack auf seinem klebrigen Schreibtisch. Käsecracker daneben. Leere Wasserflasche zu seinen Füßen, falls er pinkeln muss. Das einzige Licht im Zimmer geht vom Bildschirm aus. Die Glühbirne an der Decke ist schon seit Wochen kaputt. Rein hat keine Lust sie auszutauschen. Dann muss er die Trittleiter neben dem Kühlschrank holen, in sein Zimmer schleppen, aufklappen und draufsteigen. Das sind ihm vier Verrichtungen zu viel. Außerdem gibt Licht nur eine Scheinsicherheit. Seit dem Lagerfeuer macht der Mensch den Denkfehler, sich sicher zu fühlen, wenn er alles sehen kann, dabei macht Licht ihn angreifbar. Verstecken sollte man sich im Dunkeln.
Rein ist Druide. Er hat einen langen, weißen Bart und trägt ein rotes Gewand mit goldenen Paspeln. An einem Drachen kreist er über dem Eingang zur Höhle. Er tauscht den Drachen gegen eine Riesenheuschrecke aus, reitet ein Stückchen darauf, lässt sie dann wieder verschwinden. Er schlägt einen Purzelbaum in der Luft. Auf dem Bildschirm loggen sich nacheinander seine Teammitglieder ein. Ein Männchen mit einem Stab erscheint, ein schwebender Werwolf, eine rennende Sonnenblume mit einem lachenden Gesicht. Od Godot ist noch nicht da. Schon wieder nicht. Von einem Anwalt sollte man doch mehr Pünktlichkeit erwarten können. Gruppenleiterin Jodida räuspert sich.
„Vielleicht sollten wir bald mal mit dem Team eine Woche hardcore gamen.“ Ihre Stimme ist schwach und heiser. Wie ein Reibeisen. „Um mal zu sehen, wie viele Raids wir an einem Tag schaffen. Zusammen, meine ich.“
Niemand reagiert auf ihren Vorschlag. Seit sie gebrüllt hat, dass „niemand verdammt noch mal auf die Idee kommen solle, zu fragen, wie es ihr geht“, sind die Gruppenmitglieder auf der Hut. Sie erahnen ihre Laune an ihrer Stimme und ihren Vorschlägen. Je mehr sie gamen will, desto schlechter geht es ihr wahrscheinlich.
„Ich hab das früher oft so gemacht. Eine Matratze neben dem Computer, die Friteuse daneben. Wir könnten schichtweise gamen und ab und zu kurz schlafen.“
Viele Mitglieder der Gilde träumen davon, nonstop zu gamen, aber austherapiert in der Onkologie-Abteilung zu sitzen und sich gamend die Zeit bis zum Ende zu vertreiben, findet sogar Rein unheimlich.
Er geht zu einem Kreis aus Pfützen. Wenn er 270 Mal ununterbrochen in diesem Kreis von Pfütze zu Pfütze hüpft, bekommt er eine geheime Waffe: eine Wasserpistole. Einige Teammitglieder haben sie schon. Das Ding ist selten, darum wertvoll. Beim 264sten Sprung geht es schief. Novackxx lacht ihn im Chat aus. Rein versucht es noch einmal. Der Bart seines Avatars wogt bei jedem Sprung auf und ab.
Der harte Kern der Gilde besteht aus fünfzehn Spielern aus der ganzen Welt, angeführt von Jodida. Ihr echter Name ist Karin und sie ist Hardcoregamer der alten Schule. Auch an Urlaubs- und Feiertagen steht sie in den Startblöcken. Dann gibt es noch Rishi, einen Telefonisten aus Indien; Novackxx, einen Journalisten aus Bulgarien; Od Godot, einen türkischen Anwalt, der in London wohnt; ein Pärchen aus Birmingham, das in World of Warcraft geheiratet hat (Rein war Trauzeuge bei dieser Zeremonie); Maneater, eine Nachtschwester aus Deutschland, und noch eine Handvoll Sonderlinge, die ein blühendes Onlineleben einem Sozialleben jenseits des Bildschirms vorziehen.
Heute ist der vierte Abend nacheinander, dass sie die Megaschildkröte Tortos zu töten versuchen. Rein weiß nicht, was ihn mehr stört: Das Gebrüll des Reptils, das den Rest der Nacht in seinem Kopf widerhallt, oder Jodidas Enttäuschung nach dem x-ten missglückten Versuch. Wenn es nicht gelingt, einen Boss zu schlagen, wird sogar Rein kurz wütend. Die leeren Bierdosen von seinem Schreibtisch zu fegen oder die Klobrille auf die Schüssel zu knallen, beruhigt ihn aber meist wieder. Karins Enttäuschung geht tiefer. Für sie kann jedes Monster das letzte sein. Karin ist die Einzige in der Gruppe, die seinen echten Namen kennt. Manchmal liegt Rein wach, weil er weiß, dass sie dort wachliegt, in dem gemieteten Krankenhausbett neben ihrem Computer. Verbissen Strategien austüftelnd. Sich fragend, wo sie die schwachen Glieder der Gruppe platzieren sollte. Sie grübelt über Feuerkraft, spells, potions und Angriffstaktik. Bis sie Atemnot bekommt und wieder an den Sauerstoffkonzentrator muss. Früher rief sie ihn manchmal nach einem Abend Kämpfen an, um Dampf abzulassen. Sie besprachen die Fehler des Abends, schätzten die Schwächen der Spieler ein, machten einen Schlachtplan für den nächsten Tag. Sie ruft schon eine ganze Weile nicht mehr an. Rein weiß nicht, ob ihn das stört. Er hat über ein Telefongespräch weniger Kontrolle als über eine Tastatur. Wer weiß, was sie aus seiner Atmung oder aus dem Klang seiner Stimme heraushört. Lieber tippt er sarkastische Kommentare im Chat. Außer mitten im Gefecht. Wenn jede Sekunde zählt, murmelt er seine Anweisungen so kurz wie möglich ins Mikrofon.
270. Die Zahl steigt in gelben Ziffern auf dem Bildschirm auf. Er hat es geschafft. Added to inventory of Scomodo: super soaker erscheint im Bild.
„Good job!“, sagt Maneater.
Whoa! Now we can finally have a proper water fight ;-), tippt Novackxx.
Od Godot logt sich ein.
„So sorry I’m late, guys“, sagt er.
Die Teammitglieder gehen nacheinander in die Höhle hinein. In der Gilde gibt es wenige Frauen. Das gefällt Rein. Seine vorige Gruppe bestand zum größten Teil aus Hausfrauen, die spielten, als ob sie während der Happy Hour an einer Bar säßen. Nach einer halben Flasche Wein und einem Monster fingen sie an, sich über ihr Sexleben zu beschweren. Damit konnte Rein nichts anfangen. Warum beklagten sie sich, wenn sie sowieso nichts daran ändern konnten? Auch das Thema an sich war ihm unangenehm. Von etwas Gefummel hier und da abgesehen, war er noch Jungfrau. Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand mit ihm, mit seinen dünnen Beinen und schlaffen Armen, schlafen wollte. Die Hausfrauen tratschten auch gerne. Das verstand er nicht. Wieso sich über jemanden unterhalten, der nicht anwesend war? Das war ineffizient. Tratschen ist ein Aussetzer im Gehirn. Das Bedürfnis, ungute Erinnerungen ständig aufs Neue erleben zu müssen. Manchmal hat Rein das auch. Aber er findet es unhöflich, anderen Leuten damit zur Last zu fallen. Er trottet die ausgetretenen Runden in seinem Geist lieber alleine.
Er hatte mit dem Spiel angefangen, als er noch studierte. Nachdem er im Studentencafé entlassen worden war, weil er zu langsam war, hatte er Zeit im Überfluss. Er mochte Menschen nicht besonders gerne, aber er musste zugeben, dass er ohne die Abende in der Kneipe einsam war. Seine Mitbewohner sah er nur in der Schlange an der Mikrowelle. Die gemeinsamen Abendessen waren abgeschafft worden, weil niemand kochen konnte.
„Wenn du das spielst, gibt es keinen Weg zurück“, hatte ihn der Verkäufer im Elektrogeschäft gewarnt. „Bist du sicher, dass du das Spiel willst?“
Der ältere Student, der ein Stockwerk über ihm wohnte, spielte es auch. Es klang aufregend, die Explosionen bis tief in die Nacht, das schallende Gelächter des Studenten, das Zischen beim Öffnen der Bierdosen. Rein hatte den Verkäufer angesehen und kurz genickt.
Wenig später war er Druide geworden und in die europäischen Toprankings aufgestiegen. Wöchentlich traten die besten Gilden online an ihn heran. Karin war die einzige Teamleiterin, die ihm eine geschäftsmäßige Nachricht schrieb.
Wir brauchen für unseren Gruppendurchschnitt einen Strategen von deinem Format. Du müsstest bei uns mindestens fünf Abende pro Woche raiden. Ziel ist die Top 10 auf unserem Server.
Keine Anrede dabei, kein Smiley oder schleimige Komplimente. Das gefiel Rein. Da konnte er gerne über die Tatsache hinwegsehen, dass sie eine Frau war.
Die Teammitglieder nehmen auf dem Bildschirm ihre Positionen ein. Rein legt einen lila Pilz vor das Maul des noch schlafenden Untiers. Sobald es aufwacht, werden sie explodieren. Die Teammitglieder, die in der Nähe stehen, bekommen einen Mannaboost. Zwei Fliegen mit einer Klappe.
„Wir haben alle das Anleitungsvideo gesehen, Jungs“, sagte Karin. „Macht mir keine Schande.“
Der Countdown läuft. Blitze und Laserstrahlen zucken durchs Bild. Die Schildkröte brüllt und speit Feuer. Sie stampft auf und das Bild bebt. Der steinerne Boden bricht auf. Die Pilze explodieren. Ein Schwarm Fledermäuse senkt sich von links auf das Team.
„Bats“, sagt Rein und checkt das Energieniveau seiner Teamkollegen. Er lädt Maneater und Crazy_Co auf. Sie schießen die Fledermäuse, die von rechts kommen, ab.
„Bats“, sagt Rein, als sie von links kommen. „Bats.“
Die Viecher kommen jetzt aus allen Ecken der Höhle auf sie zugeschossen.
„Bats. Bats. Bats.“
TORTOS LETS OUT A ROAR, ATTRACTING TURTLES erscheint in roten Buchstaben mitten im Bild. Die Schießerei wird durch das Gebrüll übertönt. Kreiselnde Minischildkröten rollen mit Karacho zwischen den Beinen von Tortos hervor. Die Gruppe fällt um wie Bowlingpins beim Strike.
You have died. Release your spirit and return to the nearest graveyard?
Rein klickt auf yes.
2
„Diesmal auch gut an den Rändern entlanggehen, Rein.“
Seine Mutter steht auf der anderen Seite des Zauns. Rein steht mit rostiger Kackeschaufel und Abfalleimer auf Rädern bereit. Der Hundezwinger ist ein halber Hektar lockerer Sand, übersät mit Tunneln, Klettergerüsten und Quietschetieren. Die Laufwege der Hunde haben tiefe Trampfelpfade hinterlassen. Mit dem Handgelenk wischt er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Seine Mutter hebt im Weggehen noch kurz die Hand. Die Enttäuschung überkommt sie nicht mehr in lähmenden Wellen. Es sind Stiche geworden. Sich mit ihrem Sohn zu unterhalten, fühlt sich an wie eine Akupunkturbehandlung. Ihre Gespräche sind abgemessene Informationsportionen geworden. Als klar wurde, dass ihr Sohn nicht einfach nur ein schüchternes Kind war, hatte Vera sich oft gefragt, ob sie zu viel von ihm verlangt hatte. War es die Folge erstickender Mutterliebe? Wie sorgfältig sie ihre Worte auch wählte, sie hatten immer die entgegengesetzte Wirkung. Ihren Sohn fröhlich oder begeistert erleben zu wollen, sei nicht realistisch, hatte der Therapeut ihr eingebläut. Wenn er ihr überhaupt antworte, müsse sie schon zufrieden sein.
Er wartet, bis er seine Mutter bei seiner Schwester Adelien einsteigen hört. Sie hupt. Dann ist er alleine. Es ist ziemlich windig und die hohen Laubbäume um ihn herum knacken. Er zieht den Reißverschluss seiner Fleecejacke zu. Auf dem Rücken ist der Kopf von Glorioso Majesticus, Rufname Tom, aufgestickt, der Afghane, mit dem der Zwinger seiner Mutter vor fünfzehn Jahren anfing. Der Traumhund, mit dem sie ihre erste Ausstellung gewann und sich einen Namen als Hundezüchterin machte.
Rein schlurft zum ersten Hundehaufen in der Nähe. Die Ausscheidungen der zwanzig Hunde unterscheiden sich in Konsistenz und Farbe. Manche sind nasse Fladen, in Sand paniert. Andere sind trockene, dunkele Zigarren mit tiefen Rissen, die beim Aufschaufeln in einzelne Brocken zerfallen. Warum wächst auf dem einen Küttel Schimmel, während der andere langsam zerkrümelt und Teil des Sandes wird? Er hat keine Ahnung.
Nach einer halben Stunde ist der Mülleimer voll. Rein ist an der Hälfte des Zwingers und beschließt, dass er jetzt genug geräumt hat. Würgend knotet er die Mülltüte voller Hundehaufen zu. Drinnen zappt er durch die 137 Sender des Breitbildfernsehers. Er bleibt eben bei National Geographic hängen. Der Hundeflüsterer korrigiert einen hinterlistigen Chihuahua. Die Eigentümerin weint und schlägt die Hände mit eindrucksvollen falschen Fingernägeln vors Gesicht. Cesar Milan legt ihr den Arm um die Schulter. Der Mann kastriert alle Rüden in seinem Rudel bis auf einen, sodass eine natürliche Hierarchie in der Gruppe entsteht. Der mit dem meisten Testosteron herrscht. Schön einfach. So eine Herangehensweise geht natürlich bei Showhunden nicht. Wenn sie gut sind, müssen sie alle irgendwann Deckrüden werden. Ihr Sperma ist Gold wert. Der Sack muss bleiben. Um Kämpfe zu vermeiden, werden die Hunde in getrennten Gruppen rausgelassen. Es gibt drei: Die älteren, von Alphahündin Pixie angeführt. Dann gibt es Godzillas Gruppe. Und die größte Gruppe, die von Marquis de Sade. Marquis kommt aus Skandinavien. Rein vergisst immer, aus welchem Land. Norwegen, Finnland. Seine Schwester und Mutter haben ihn irgendwann einmal von einer Hundeausstellung mitgebracht. Sie haben dafür ein Auge. Das Tier gewinnt fast alles, wofür es angemeldet wird. Marquis ist der größte Rüde des Zwingers. Ein Stier, als Showpferd getarnt. Sein dickes, grauschwarzes Fell hat einen blauen Schimmer, der eher an blühende Disteln als an Hundefell erinnert. Diese seltene Farbe, die erst nach vielen Generationen der Kreuzung von braunen mit schwarzen Hunden zum Vorschein kommt, verwirrt die Stäbchen und Zäpfchen des Betrachters. Er besteigt die Hündin nie, wenn sie am fruchtbarsten ist. Er wartet bis zum letzten Tag ihrer Läufigkeit, wenn die Vulva schon wieder geschrumpft ist. Dann bespringt er sie mit einer zielgerichteten Aggressivität. Nachdem er einmal eine Hündin so fest in den Nacken gebissen hatte, dass das Blut ihre Vorderpfoten hinabfloss, durfte er nur noch mit Maulkorb decken. Vera glaubt felsenfest daran, dass Namen den Charakter formen. Bei Marquis haben die Züchter ihrer Meinung nach nicht gut über den Namen nachgedacht. Es sei dem Rüden vergeben. Er sorgt für wunderschönen Nachwuchs.
„Er geht nicht, er schreitet“, sagt seine Mutter über Marquis.
Und das stimmt. Rein kennt kein anderes Tier, das sich so grazil bewegt. Als ob die Schwerkraft für dieses Tier ausgesetzt worden wäre. Der Hund strahlt eine Lebensfreude und Zufriedenheit aus, die Rein nicht verstehen kann.
Er öffnet die Tür des Hundehauses, tritt ein und schließt sie hinter sich mit dem Häkchen. Es gibt einen Hund in der Gruppe, der Türklinken herunterdrücken kann. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie durch die Tür abhauen. Dann ist man schon ein paar Stunden damit beschäftigt, sie alle wieder aus dem Unterholz herauszuzerren. Immer das Häkchen einhängen. Die jüngsten Hunde stemmen sich schon mit dem Rücken gegen die Decke ihres Käfigs. Sie schlagen mit den Schwänzen gegen die Wände. Bellen ungeduldig. Rein beugt sich zu Marquis. Die rumbraunen Augen folgen seinen Bewegungen. Erst als Rein das Türchen öffnet, steht Marquis auf, reckt sich. Wie ein Kellner steht Rein da mit der Tür in der Hand. Die Rüden markieren die Ecken des Raumes. Sie wissen ganz genau, dass sie das nicht dürfen. Sie können es einfach nicht lassen. Wenn einmal eine Duftspur gelegt wurde, muss die bis zum Ende aller Tage von allen anderen überpinkelt werden. Die Holzfußleisten sind in allen Ecken vom Urin zerfressen, an manchen Stellen durchgefault. Marquis trottet zur nächsten Ecke. Rein zischt. Der Hund sieht ihn an, hebt souverän das Bein und markiert. Rein zieht ihn nach draußen. Marquis wedelt sanft mit dem Schwanz.
„Arschloch“, murmelt Rein.
Das Aufpassen fing als Nebenjob an. Bis er einen richtigen Job finden würde. Aber wer hat auf einen Biologen ohne Abschluss gewartet? Er hatte erst ein paar Monate im Besucherzentrum des nächstgelegenen Naturschutzgebietes gearbeitet. Wochenlang hatte er Eulengewölle seziert. Anhand der unverdauten Unterkiefer dokumentierte er den Wald- und Spitzmausbestand in einer Excel-Datei. Sein Vater hatte das unter seinem Niveau gefunden. Rein war ein schneller Schüler gewesen. Hatte in der Grundschule eine Klasse übersprungen, war in der besten Klasse seines Gymnasiums gewesen und hatte in seinem Studium, bis seine Abschlussarbeit an einer Schreibblockade scheiterte, hervorragende Noten gehabt. Er brauchte nur eine kleine Starthilfe in dem Tätigkeitsgebiet, glaubte sein Vater, dann würde es schon was werden.
Unter dem Vorwand interner Einsparungen war Rein entlassen worden. Er wusste selbst gut genug, dass er nicht in das Team passte. Wenn auf irgendetwas zu viel Wert gelegt wurde, dann war das ja wohl erwünschtes Sozialverhalten. Er mochte keinen Kaffee. Warum sollte er dann am Kaffeeautomaten rumhängen? Und guten Morgen zu sagen, wenn man einen Kater oder einen schlechten Tag hatte, ist lügen. Lügen ist ineffiziente Kommunikation, genau wie Tratschen. Ohne Studentenkredit oder Einkommen musste er wählen: Wieder zu seinen Eltern zurück ziehen oder sich etwas Billigeres suchen.
Seine Mutter war dann mit dem Häuschen am Deich angekommen. Es zog da immer und die Feuchtigkeitsflecken an der Wohnzimmerdecke trockneten nie so ganz. Er teilte das Haus mit einer Mitbewohnerin. Obwohl sich Rein vorgenommen hatte, nie wieder in Brabant wohnen zu wollen, lag das Haus nur ein Dorf von seinem Geburtsort entfernt. Mit einem extra Pulli gegen die Kälte ließ es sich drinnen gut aushalten. Und die feuchten Flecken sah er nicht. Er guckte nie nach oben. Das undichte Deichhaus ersparte ihm die Suche nach einem billigeren Zimmer in der Stadt. Er ignorierte die Mitbewohnerin so gut es ging. Das kostete ihn weniger Mühe, als Interesse vorzutäuschen.
Um sechs Uhr tauchen die Scheinwerfer des Jeeps auf. Rein schlüpft blitzschnell in seine Jacke. Als seine Mutter aussteigt, wirft er gerade das Bein über den Fahrradsattel. Hoffentlich kommt er noch rechtzeitig.
„Wir haben gewonnen!“
„Ihr seid zu spät.“
„Morgen ist Familienabend, nicht vergessen!“, ruft seine Mutter ihm hinterher.
Emmely heißt seine Mitbewohnerin. Oder Emma. Irgendwas mit E. Sie macht eine Ausbildung als Friseurin. Jede Woche hat sie eine andere Frisur. Sie nimmt jeden Morgen den Bürgerbus. Rein kennt niemanden, der so viel Brokkoli isst. Der Geruch von gekochtem Gemüse ist, neben dem Schimmel der Wände und dem Potpourri, das in kleinen Spitzensäckchen im Flur hängt, der Grundgeruch des Hauses geworden. Seine Mutter hatte im örtlichen Gratisblatt inseriert. Nachdem die Mitbewohnerin eingezogen war, waren über der Couch Bilder mit Nahaufnahmen von Blumen aufgetaucht. Ein großer, weicher Schwamm aus rosa Gaze in der Dusche. Auch die Küche und das Wohnzimmer hatte sie annektiert. Überall standen Lampen mit lila Schirmen und Kristallen. Kuscheltiere auf der Fensterbank. Ein Sinnspruch von Loesje auf dem Klo: LIEB HAT MAN NICHT, LIEB IST MAN. Frauen verzieren Häuser und nennen es gemütlich, aber eigentlich ist es ihre Art, sich Territorium anzueignen. Sein Reich ist es jedenfalls nicht mehr.
Er trampelt die Tür zu seinem Dachbodenzimmer hoch. Zieht die Tiefkühlpizza zwischen Gürtel und Hose hervor und steckt sie in seine Kombimikrowelle. Dann drückt er auf den An-Knopf seines Computers und lässt sich auf den Stuhl fallen. Die Gruppe hat zum Glück noch nicht angefangen.
3
„Und wie geht es sonst so?“ Vera verteilt Lachsstücke aus der Ofenform auf die Teller.
Die Farbe erinnert Rein an seine Nachbarin. Eine schreckliche Person, die immer mit so einem Regenhut am Zaun lehnt. Immer grinsend und guten Tag sagend.
Als er in das Haus am Deich einzog, hatten sie vereinbart, dass er mindestens einmal pro Woche zu Hause essen sollte. Das ist inzwischen fünf Jahre her. Höchste Zeit, damit aufzuhören.
Die Familie sitzt an dem runden Holztisch in der Küche. Vater Diet – Diederik für Fremde – sitzt am Kopfende. Auch Adelien isst mit, denn ihr Mann Freek ist am Strand. Da lässt er Dampf ab. Seit drei Generationen leitet seine Familie mittlerweile eine gutgehende Tennisballfabrik. Sie kann sich nicht wirklich vorstellen, dass ein Unternehmen, das gut läuft – besser denn je – Stress mit sich bringt. Und doch legt Freek immer häufiger sein Geschirr an und hängt seinen Drachen daran ein. So läuft er dann den Strand auf und ab. Als ob Gott mit ihm Gassi geht. Rein musste einmal mit. Und nicht nur das, Freek zwang ihn, das Geschirr anzuziehen.
„Mit dem Wind eins werden, Mann, du weißt gar nicht, sowas hast du noch nie erlebt!“
Ein Windstoß und Rein hatte sich langgemacht, den Mund voll Sand.
„Vielleicht kannst du Amy mal bitten, deine Haare zu schneiden?“
Rein sieht seine Mutter an.
„Das lernt sie doch? Braucht sie keine männlichen Modelle? Es ist einfach ein bisschen zu lang. Du siehst aus wie ein Töpfer.“
Jahrelang war seine Mutter von einem verliebten Töpfer belästigt worden. Seitdem war das ihr Lieblingsschimpfwort. Er hatte zwei ihrer Hunde gekauft. Seine Liebesbriefe, in denen er von triefenden Lenden und reifen Früchten schrieb, waren ihr unangenehm, aber seine Arbeiten fand sie wunderschön. Im Wohnzimmer stand eine lebensgroße Skulptur eines Afghanen mit Frauengesicht. Sie sollte Vera darstellen. Ihren Kopf mit theatralischem Schwung in den Nacken geworfen. Die Hinterbeine angewinkelt, einen eleganten Ringelschwanz zwischen den runden Pobacken. Als der Töpfer einmal nachts aufs Schlafzimmertrommelt hatte, hatte Diet ihm ein Handbeil schwingend klargemacht, wie die Dinge lagen.
„Du schmatzt.“ Adelien bringt Diets Gabel auf halbem Weg zum Mund zum Stillstand.
Diet entzieht ihr die Gabel. „Eure Viecher schmatzen auch. Das bedeutet, dass es schmeckt.“
„Die Hunde fressen Pansen. Wenn du auch schmatzen möchtest, mach ich dir gerne einen Napf fertig.“, sagt Adelien.
Diet beugt sich zu seiner Frau. „Der Lachs ist köstlich, Schatz. Ich schmatze, weil’s mir schmeckt.“
Sie zwinkert zurück.
„Haben wir noch Sandflöhe im Zwinger?“, fragt Adelien.
Sofort fühlt Rein den brennenden Juckreiz der Dutzenden Bisse an seinen Schienbeinen zunehmen. Er kreuzt seine Beine, reibt sie aneinander.
„Es ist noch nicht besser“, sagt er.
„Dagegen müssen wir wirklich etwas tun“, sagt Vera und sieht dabei ihren Mann an.
„Die Hunde leiden auch darunter“, sagt Adelien. „Ich habe für den Bodenbelag an Holzspäne gedacht.“
„Geht das mit unserem Budget?“
Sie machen eine Pause, warten bis die Message bei Diet ankommt.
„Eine kleine Schenkung wäre willkommen.“
Diet weicht dem Blick seiner Tochter aus. Kämmt mit seiner Gabel die Rohkost auf seinem Teller. Er findet eine geröstete Nuss zwischen den Salatblättern und steckt sie in den Mund, horcht dem Krachen in seinem Schädel hinterher.
„Will Freek nicht mal sponsern? Tennisbälle und Hunde … eine ideale Kombination“, sagt Diet dann.
„Sie machen dieses Jahr was mit Wasserfiltern in Ghana.“
„Näher an zu Hause gibt es auch genug zu tun.“
„Versucht da jemand, sich aus der Verantwortung zu ziehen?“ Adelien sieht alle am Tisch Sitzenden an, als sei sie die Aufpasserin bei der Hausaufgabenbetreuung.
Es ist bewundernswert, denkt Diet, wie schnell seine Tochter es schafft, seinen Blutdruck in die Höhe zu treiben. Wenn er ganz ehrlich ist, hatte er sich etwas anders von der Vaterschaft erwartet. Er hatte sich vorgestellt, dass seine Kinder einen natürlichen Respekt vor ihm hätten. Oder sich dankbar zeigen würden. Wenn schon nicht für ihre Zeugung, so doch sicher für das Haus, ihr Bett, die Kleider in ihrem Schrank oder zumindest für den Lachs auf ihrem Teller. Es lag nicht an ihm, dass wusste er genau. Er hatte alles richtig gemacht, wie es sich gehörte. Seine Fehltritte waren menschlich. Viele Männer litten darunter. Er hatte seine große Liebe nie verlassen. Er tat alles dafür, seinen Nachwuchs glücklich zu machen. Alles. Leider wurde er, seit sie aus dem Leib seiner Frau hervorgepresst worden waren, von ihnen vollgekotzt, abgewiesen und kritisiert. Er wurde geduldet, hatte aber überhaupt nichts zu sagen. Er ist Gast in seiner eigenen Familie. Er will nicht wie sein verbitterter Vater in einem Altersheim verschwinden. Man hat sie schließlich nicht all die Jahre gehütet, um dann wie ein gealtertes Kuckucksküken aus dem Nest geschmissen zu werden. Er versucht dieses Schicksal abzuwenden, damit seine Kinder nicht monatlich als Pflichtprogramm zum Kaffee kommen, sondern ihm später von Herzen eine Schüssel beim Frühstück dazustellen. Er schüttelt die Verärgerung von sich ab. Es ist ein schöner Abend. Wir sind zusammen, wir haben zu essen, hält Diet sich vor. Reichtum. Er hebt das Glas.
„Auf die Gewinner!“
Vorsicht stoßen Adelien und Vera an. Rein isst weiter. Er mag keinen Lachs, aber noch weniger mag er hohle Gesten.
„Das Wochenende war gut“, sagt Vera. „Zweimal Best of Breed und ein CACIB in der Tasche. Da hat sich die Fahrt nach München ja wohl gelohnt. Ohne eure Hilfe hätten wir das nicht machen können.“ Vera packt ihren Mann und ihren Sohn am Handgelenk. Diet grinst. Sie weiß verdammt gut, dass seine Kohle diesen Hunde-Basar am Laufen hält. Noch zumindest. Er arbeitet, um sie glücklich zu machen. Das ist wahre Liebe. Rein wartet, bis sie die Hand wieder wegnimmt. Sie drückt sanft. Hier wird eine Reaktion von ihm erwartet. Er weiß nicht was für eine. Er nickt. Dann lässt sie ihn los.
„Gilly wird bald läufig“, sagt Adelien.
„Ist das die junge rote Hündin?“, fragt Diet.
Adelien nickt. „Sie ist schon zwei. Nicht mehr ganz so jung.“
„Bereit für den nächsten Schritt“, sagt Vera.
„Wen willst du drauf lassen?“, fragt Diet mit vollem Mund.
„Einen neuen Rüden.“
„Keinen von uns? Was ist denn an unseren nicht gut?“
„Nichts.“
„Ich finde, dass Kriss Kross eigentlich mal wieder ein wenig Aktivität verdient hat.“
„Es geht hier nicht darum, dass unsere Rüden auf ihre Kosten kommen“, sagt Vera. „Wir führen kein Hundebordell.“
„Wir wollen Blut von außerhalb des Zwingers“, erklärt Adelien. „Das erhält die Rasse gesund. Mehr Diversität in den Genen.“
Diet fühlt eine Investition auf sich zukommen. Er hat den Verdacht, dass seine Tochter ihm mutwillig zu viel Geld aus der Tasche leiert. Sie weiß nicht, dass der Goldesel bald keine Dukaten mehr scheißt. Die Frage ist bloß: Wann? Doch jetzt reißt er sich zusammen. Nur nicht unnötige Unruhe verbreiten.
„Es geht um einen Rüden, dem wir inzwischen schon eine Zeit folgen, aus Australien“, fährt Adelien fort.
„Ein Rüde aus Australien? Kommen die denn nach hier zu den Ausstellungen?“
„Einmal, letztes Jahr.“
„Wie kannst du ihm dann folgen?“
„Internet.“
Die Welt ist wie Knete. Du kannst aus ihr deine Träume formen. Das hat er seinen Kindern eingebläut. Er sieht seine Tochter noch vor sich, im Garten, wie sie in dem blauen Sandkasten in Form einer Muschel sitzt. Sie kann nicht älter als fünf gewesen sein. Rein blieb im Schatten des Vordachs auf seinem Windelpopo sitzen, aber Adelien war völlig unbekümmert. Die konnte stundenlang schaufeln. Und sobald sie etwas gebaut hatte, rief sie ihren Vater.
„Schlaues Mädchen.“ Er kneift seiner Tochter fest in die Wange.
Es bleibt ein Abdruck seiner Finger zurück. Adelien lacht ihm lieblich zu.
„Woher weißt du, ob der Hund nicht inzwischen hinkt und eine ansteckende Krankheit hat? Vielleicht ist sein Blut ja ganz fürchterlich schlecht.“
„Wir haben Kontakt aufgenommen“, sagt Vera. „Stammbaum und Blutbilder angefordert und eingesehen. Das Problem ist nur, dass der Züchter kein Sperma schicken will. Er vertraut IVF nicht und möchte erst die Hündin sehen. Das ist natürlich riskant, aber wir trauen uns das zu.“
„Soso.“ Diet kratzt sich an der Wade. Zieht seine Socke hoch, drückt die Zehen in den Stoff. Die Erleichterung bleibt aus. „Und der Geldgeber wird also erst informiert, wenn das Geschäft schon abgeschlossen ist?“
„Wir wollten erst sicher sein, bevor wir dich einbeziehen“, sagt Adelin. „Wir wissen, wie viel Stress du hast.“
Sie tut ihr Bestes. Setzt sogar ihre liebe Stimme ein. Die ist oft ausschließlich für die Hunde reserviert.
„Mich einbeziehen? Mich vor vollendete Tatsachen stellen, meinst du wohl.“ Diet breitet die Arme aus. „Machen wir das hier nicht alle zusammen?“ Wenn das hier wirklich ein Familienunternehmen ist, dann wüsste er doch gerne, was die Rolle seines Schwiegersohns bei alledem ist. Aber er fragt es nicht. Weiß genau, dass die Frauen dann über ihn herfallen. Früher hatten Väter es leichter, denkt Diet. Damals war eine Tochter nach dem Tausch der Ringe das Problem eines anderen.
Rein weicht der Gabel seines Vaters aus. Es fällt ein Scheibchen Lachs auf den Teppich. Eins der haarigen Schoßhündchen schießt unter seinem Stuhl hervor, um es aufzulecken. Die drei Mischlinge sind das Resultat eines Unfalls bei einem befreundeten Züchter. Eine läufige Shih Tzu-Hündin hatte die Flurtür aufgekriegt und sich von einem preisgekrönten Mops decken lassen. Die befreundete Züchterin in Tränen aufgelöst. Sie riskierte, in der Hundewelt als Amateurin abgetan zu werden. Was sollte sie tun? Das Trio anonym vorm Tierheim aussetzen? Sie eine Nacht draußen in der Eiseskälte lassen? Vera hatte sich erbarmt, die drei Welpen mit nach Hause genommen und geschworen zu schweigen. Sie wurden ihre Kuschelhunde. Beim Fernsehen liegen sie ihr zu Füßen. Langhaarige Schweinchen mit platten Nasen und kurzen Körpern. Sie schlüpfen ins Badezimmer, sobald jemand auf die Toilette geht. Zu dritt starren sie mit ihren Glubschaugen die Person auf dem Klo an.
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