Gaea Schoeters - Trofee

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„It was written I should be loyal to the nightmare of my choice.“
Joseph Conrad, Heart of Darkness


Wie ein Raubvogel stürzt sich das Flugzeug aus dem nachtschwarzen Himmel hinab, bremst ab, hängt einen Augenblick scheinbar reglos in der Luft und setzt dann zu einem weiten Bogen an, als hätte es zwei Beutetiere erblickt und könne sich nicht zwischen ihnen entscheiden. Unten in der Tiefe zerteilen Lichtbänder die Dunkelheit, über die kleinere Lichter wie Ameisen hin- und her wuseln, sich gruppieren, formieren und dann wieder auseinanderstieben. Das Land jenseits der Lichtflecken ist ein gähnendes, schwarzes Loch, zu dunkel, als dass man erkennen könnte, ob es flach oder hügelig ist. Erst nachdem das Flugzeug zum Sinkflug angesetzt hat, lassen sich Muster erkennen: Landrücken heben sich ab, Täler weichen zurück, Wasser trennt sich von Land. Viel Zeit sich umzuschauen bleibt nicht; nachdem der Vogel seine Beute gewählt hat, stürzt er pfeilschnell hinab. Kurz kann man Gebäude erkennen, Lastwagen, Autos, dann berührt das Fahrwerk den Boden.


Darwid atmet auf, empfindet jedoch keine Erleichterung, im Gegenteil: Sofort wird er von einer Schwere überfallen, als zerre der Boden dieses Landes stärker an ihm und lasse die Luft sich schwerer atmen. Seit Jahren hat er auf diesen Moment hin gefiebert, tagein, tagaus, und genauso viele Nächte hat er hiervon geträumt. Doch jetzt, jetzt, wo er wirklich hier ist, empfindet er keine Freude, keinen Triumph, nicht einmal Befriedigung. Obwohl das Flugzeug tatsächlich an seinem Bestimmungsort angekommen ist – das versichert ihm die metallische Stimme des Stewards, für den Fall, dass er oder einer der anderen Passagiere daran zweifeln sollte –, überfällt ihn keine Freude, wie sie mit einer Ankunft einhergeht, kann er nicht aufatmen wie ein Mann, der eine lange Reise und viele Entbehrungen hinter sich hat und feiert, überlebt zu haben. Stattdessen lastet die Traurigkeit eines Abschieds auf ihm, als trage er den ganzen Weg, den er bis hierhin abgelegt hat, mit sich und klammerten sich alle Opfer, die er auf dieser Reise gebracht hat, mit ihrem vollen Gewicht an ihn.


Mit einem Ruck kommt das Flugzeug zum Stillstand. Um ihn herum stehen die anderen Passagiere auf, schnappen sich ihr Gepäck und drängeln durch den Gang. Darwid wirft noch einen letzten Blick aus dem Fenster. Erst jetzt fällt ihm auf, dass der Boden draußen weiß ist. Es hat geschneit. Der Anblick überrascht ihn, denn obwohl er natürlich weiß, dass es so etwas wie Schnee gibt, hat er noch nie welchen gesehen. Er betrachtet ihn wie die Geburt eines Kindes: ein ganz normales Ereignis, das schon seit Jahrhunderten immer wieder stattfindet und weithin unbeachtet bleibt, aber jemandem, der er es zum ersten Mal erlebt, wie ein Wunder erscheint.

 


I
DER JÄGER


Zwei Monate zuvor


Der Schuss zerreißt die Morgenstille. Obwohl er darauf vorbereitet war, bringt der Rückstoß des schweren Jagdgewehrs Hunter aus dem Gleichgewicht; die Kraft der Waffe hebt seinen linken Fuß fast einen halben Meter vom Boden. Van Heeren, der neben ihm steht, lacht.

„Überrascht einen immer wieder, was? Nasty fuckers, die alten Doppelbüchsen. Trotzdem ein guter Schuss.“

Zusammen gehen sie zum anderen Ende der Schießbahn; zufrieden stellt Hunter fest, dass er tatsächlich das Ziel perfekt getroffen hat. Mitten im Schwarzen befindet sich ein kleines, rundes Einschussloch, kaum größer als sein kleiner Finger, aber der Einschlag der Kugel hat den dahinterliegenden Sandsack völlig zerfetzt; in alle Richtungen rinnt roter Sand heraus. Für diese Feuerkraft nimmt er gerne Prellungen an seiner Schulter in Kauf; sie kann über Leben und Tod entscheiden. Des Jägers, nicht der Beute. Dass viele Jäger heute lieber kleinere Kaliber verwenden, hat er nie verstanden; er würde sich im Busch mit einer leichteren Waffe nicht sicher fühlen. Leichtere Munition erfordert den perfekt platzierten Schuss, und auf schwierigem Terrain hat ein Jäger nicht immer den Luxus, sich seine Position auszusuchen; greift ein wildes Tier überraschend an, kann man froh sein, wenn man es überhaupt trifft. Außerdem tötet eine leichtere Waffe die meisten Beutetiere zwar, fällt sie aber nicht sofort, und Hunter möchte nicht von einem „toten“ Tier zermalmt werden, das noch ein paar Meter weiterläuft, bevor es umkippt. Deshalb nimmt er für die Großwildjagd seine alte Doppelbüchse, eine .577 Nitro Express, wie einst Hemingway, als er hier ein Nashorn und ein Löwenpaar schoss, und keine leichtere, modernere Waffe. Aber das hat Hunter bei der Flughafenpolizei heute Morgen natürlich nicht erzählt, als er sich beim Abfertigen seiner Waffe mit dem Polizisten unterhielt. Auf die Frage, warum er mit so einem schweren Kaliber jage, hat er schlichtweg geantwortet, das sei das Gewehr seines Großvaters gewesen, was stimmte, und noch etwas über Männlichkeit hinzugefügt, was mit beifälligem Gelächter begrüßt wurde. Schlafende Hunde soll man nicht wecken, sicher nicht in einem Land wie diesem, in dem die Anzahl der Streifen auf den Epauletten den Grad der Korruption anzeigt. Je weniger Menschen über sein wahres Reiseziel Bescheid wissen, desto besser. Liebevoll klappt er seine Doppelbüchse auf und hängt sie sich abgekippt über den Arm. Van Heeren gibt ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter.
„Ich finde, du hast dir einen Aperitif verdient“.

Zusammen gehen sie zwischen den niedrigen Bungalows hindurch in Richtung der Lodge; rundum zirpen die Grillen. Hunter atmet ein paarmal tief durch; trotz des Nachtflugs und der Hitze fühlt er sich körperlich frisch und fit. Bereit für die Jagd. Sein Geist ist entspannt und ruhig, aber wachsamer als zu Hause; seine Ohren sind gespitzt, er registriert unbekannte Gerüche, nimmt den vagen Eisengeschmack der Luft wahr. Ob ein Gewitter in der Luft liegt? An seinem Bungalow bleibt er stehen.
„Ich komme gleich. Muss nur kurz das gute Stück hier weglegen und ein frisches Hemd anziehen.“
Hunter schiebt das Terrassenfenster auf, legt seine Waffe in den geöffneten Gewehrkoffer auf dem Bett, zieht sein verschwitztes Hemd aus und hängt es über die Stuhllehne. Wider besseres Wissen setzt er sich auf die Bettkante. Sofort schlägt der Jetlag gnadenlos zu: Sein Körper möchte nichts lieber, als sich hinlegen und die verpasste Nacht aufholen. Sich einfach kurz hinlegen, nur ganz kurz, muss doch möglich sein? Doch sobald er sich auf dem Bett ausgestreckt hat, merkt er, dass das ein Fehler war. Wenn er jetzt die Augen schließt, ist er verloren. Dann wird er einschlafen und irgendwann mitten in der Nacht aufwachen und stundenlang schlaflos auf den Morgen warten. Und das die kommenden Tage immer wieder, bis er völlig erschöpft ist. Während der Trick genau darin liegt, sofort dem Rhythmus des neuen Tages zu folgen. Gerade noch rechtzeitig zwingt er sich, die Augen offenzuhalten, und zieht sein Handy aus der Hosentasche. Er tippt einen Namen an und wartet; über ihm an der Zimmerdecke kreisen langsam die hölzernen Flügel des schweren Ventilators. Elfmal klingelt es, bis jemand drangeht. Die Frauenstimme am anderen Ende klingt warm und verschlafen, aber ohne Vorwurf.
„Hallo.“
„Ich hab dich geweckt.“
„Wundert dich das, zu dieser nachtschlafenden Zeit?“
„Wo bist du?“
Das Geräusch von Stoff auf Stoff. Ein Laken wird zur Seite geschlagen. Vor seinem inneren Auge sieht er, wie sie sich aufsetzt, am Rand des Bettes, noch nicht ganz wach, ihr Gesicht weicher als bei Tage. Obwohl er sich in ihre Schärfe verliebt hat, ist es ihr nächtliches Wesen, das ihn rührt.
„In Mexiko.“
„Na so was. Für die Arbeit oder zum Spaß?“
„Nicht jeder trennt die Dinge so strikt wie du.“
Hunter lacht. Er sieht sein Büro vor sich. Ein See von Computerbildschirmen, die Hemdrücken der Männer, die an ihnen arbeiten, genauso austauschbar wie die Displays, auf die sie starren; er braucht ihre Gesichter nicht zu sehen, um zu wissen, wer einen Gewinn einfährt oder einen Verlust einkassiert, die Anspannung in ihren Schultern sagt ihm genug. Draußen hinter dem Fenster Dutzende Wolkenkratzer. Eine völlig vertikale Skyline. Ein größerer Kontrast zu der Weite, die ihn jetzt umgibt, ist kaum denkbar; hier kann er kilometerweit schauen, ohne dass irgendetwas das Panorama ruiniert. Er richtet sich halb auf, stützt sich auf die Ellenbogen und lässt den Blick über die Landschaft schweifen: nirgends eine Spur menschlicher Anwesenheit.
„Bist du allein?“
Seine Frau antwortet nicht sofort, was ihn vermuten lässt, dass nicht. Warum sollte sie sonst aufstehen, um mit ihm zu telefonieren? Er hört Stoff rascheln, wahrscheinlich schiebt sie das Moskitonetz auf, danach das Geräusch von nackten Füßen auf Holzboden. Dann wieder ihre Stimme, weniger gedämpft jetzt.
„Wärst du eifersüchtig, wenn nicht?“
Jetzt ist sie wach. Das Weiche ist aus ihrem Gesicht verschwunden, und um die halbe Erdkugel herum fühlt er, wie sie ihn herausfordernd ansieht.
„Nein.“
„Nein?“
„Eifersucht ist ein Zeichen von Schwäche. Das würde implizieren, dass ich mich bedroht fühle.“
Löwen greifen niemals alle Männchen eines Rudels an. Nur junge Tiere, die ihren Platz nicht kennen, werden zurechtgewiesen. Eine energiesparende und effiziente Art des Zusammenlebens.
Jetzt lacht sie.
„Gut so.“
Sie hat ein Glas mit Wasser gefüllt, er hört sie trinken. In großen Zügen. Sieht ihre feuchten Lippen. Plötzlich sehnt er sich nach ihr, mit überraschender Heftigkeit.
„Kommst du zu unserem Hochzeitstag nach Hause?“, fragt er.
„Welches Zuhause meinst du?“
„Nach Hause. Unser Zuhause.“
„Kannst du nicht nach hier kommen? Hier ist das Wetter besser.“
„Schlecht. Ich hab ein Geschenk für dich.“
„Na und?“
„Es passt nicht echt ins Handgepäck.“
Er hört sie scharf die Luft einziehen. Gespannt.
„Ist es, was ich denke?“
An der Schnellheit, mit der sie die nächste Frage stellt, merkt er, dass sie keine Antwort erwartet.
„Wie lange hast du das schon geplant?“
„Zwei Jahre.“
Im leisen Rauschen der Leitung schwingt ihre Anerkennung mit. Dann, als die Bedeutung seiner Worte ganz durchgedrungen ist, fühlt er, wie sie zittert. Ein kurzes Schaudern, nackte Haut unter der weichen Seide ihres Schlafanzugs.
„Wann fährst du los? Nach …“
„Ich bin schon da. Heute Morgen angekommen.“
Schweigen.
„Hunter?“
Sie zögert, weil sie weiß, dass er es hasst, wenn sie es sagt, aber er weiß, dass sie es trotzdem sagen wird.
„Sei vorsichtig, ja?“
Hunter streckt die Hand nach seinem Gewehr aus, dass im geöffneten Gewehrkoffer neben ihm liegt, und lässt seine Finger kurz über das Holz gleiten. Eine Welle der Erregung rollt durch seinen Körper und erfüllt ihn mit der prickelnden Vorfreude auf die Jagd von morgen.
„Ich versprech’s. Aber nicht zu sehr. Ich möchte schließlich nicht, dass du mich langweilig findest.“
Er legt auf, zwingt sich aufzustehen, spritzt sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht, nimmt ein frisches Hemd und macht sich fürs Mittagessen fertig. Dass seine Frau beunruhigt ist, wundert ihn nicht; das hier ist keine Safari wie alle anderen. Weniger wegen der Beute als wegen der Umstände, die mit der Jagdlizenz verbunden waren: Der letzte Jäger, der eine ergatterte, bekam mehrere Morddrohungen. Doch ihre Besorgtheit ist völlig überflüssig: Er hat die Lizenz nicht persönlich ersteigert, sondern über eins seiner vielen Unternehmen, die extra dafür gegründet wurden, fragwürdige Käufe seiner Großkunden zu verschleiern. Verglichen mit den suspekten Übernahmepraktiken und halblegalen Monopolen, die er manchmal vor den Blicken der Finanzwächter abschirmen muss, ist es ein Kinderspiel, den Erwerb einer Jagdlizenz für ein afrikanisches Schwarzes Nashorn vor einer Handvoll fanatischer Tierschützer zu verbergen.

Im Restaurant ist nur ein einziger Tisch gedeckt. Wegen der delikaten Natur der geplanten Jagd hat Van Heeren diese Woche keine weiteren Buchungen angenommen. Hunter ist sein einziger Gast. Van Heeren wartet schon in einem der Clubsessel auf der Terrasse auf ihn; auf dem niedrigen Couchtisch stehen zwei Gin Tonics. Gordon’s Gin und Schweppes Tonic, das Original, nicht die Hipstervariante mit Rosenblättern. Eine Zeit lang sitzen die Männer schweigend nebeneinander; der Pool glitzert in der Sonne. Auch sein Gastgeber freut sich auf morgen, merkt Hunter. Es passiert nicht alle Tage, dass einer der Gäste seine Big Five vervollständigt. Sie jagen schon seit zwanzig Jahren zusammen; Hunter hat all seine großen Trophäen mit ihm geschossen. Van Heeren ist nicht nur ein vorzüglicher Führer und hervorragender Berufsjäger, sondern inzwischen auch ein Freund, wenn auch nur aus dem Grund, dass sie sich gegenseitig mindestens einmal das Leben gerettet haben – was Hunter seiner Frau selbstverständlich nicht erzählt hat. Jeder Jäger macht in seinem Leben drei Phasen durch: unsicher, übermütig und bedächtig. Dank Van Heeren hat Hunter die zweite überlebt; jetzt kennt er seine Grenzen und beschränkt sich auf kalkulierbare Risiken. Jäger, die die dritte Phase erreicht haben, sind für das Wild viel gefährlicher als junge, schießwütige Machos, die sich unverwundbar fühlen. Der Löwe, der ihn heutzutage erwischen will, muss schon verdammt früh aufgestanden sein. Aber jetzt denkt er nicht an den Löwen, der sich vor langer Zeit von hinten an ihn angepirscht hat, sondern ausschließlich an die Jagd von morgen. Die Luft zwischen ihnen flirrt vor Spannung; wie zwei Schuljungen am Abend vor dem Schulball, ein bisschen nervös, aber vor allem voller Erwartung, sehen sie dem Abenteuer entgegen, das ihnen bevorsteht. Hunter hat sich schon seit Jahren nicht mehr so gut gefühlt wie jetzt: Sein ganzer Körper sehnt sich nach dem Moment, an dem er, genau wie Theodore Roosevelt über ein Jahrhundert zuvor, Auge in Auge mit einem der gefährlichsten Tiere der Wildnis stehen wird, in dem vollen Bewusstsein, dass er mit einer winzigen Bewegung seines Fingers, dem Leben dieses Kolosses, dieses letzten fast prähistorischen Wesens, ein Ende machen kann, und dass all diese Kraft seinem Willen gehorcht. Denn er, Hunter, und niemand anders, steht am oberen Ende der Nahrungskette.

Die heiße Luft tanzt über dem Elefantengras und lässt den Horizont erzittern. Hunter bleibt kurz stehen und wischt sich den Schweiß von der Stirn; er hat das Gefühl, dass die Luft mit jeder Minute wärmer wird. Sie sind am frühen Morgen losgezogen, noch vor Sonnenaufgang; Van Heerens Chauffeur hat sie quer durch den Park zu dem Ort gebracht, an dem das Nashorn, sein Nashorn, zwei Tage zuvor zuletzt gesichtet wurde. Von diesem Punkt aus sind sie zu Fuß weitergegangen, in der Hoffnung, irgendwo eine frische Spur zu entdecken, doch im kniehohen Gras ist nichts zu sehen. An einem Wasserloch haben die Führer frischen Mist bemerkt und aus dessen Zusammensetzung geschlossen, dass ihre Beute wahrscheinlich ein wenig weiter westlich grast, wo Wolfsmilch wächst, die es offenbar am liebsten mag, und wo es leichter Schutz suchen kann als im Unterholz. Das ist eine schlechte Neuigkeit. Ein Nashorn auf offener Ebene zu schießen, ist schwierig genug, eins durchs Gebüsch zu verfolgen, ist der Albtraum eines jeden Jägers. Zudem leben in diesem Gebiet außer Hunters Nashorn noch zwei junge Männchen; Hunter will gar nicht daran denken, dass er unerwartet auf eins von ihnen stoßen könnte und zur Selbstverteidigung das falsche Nashorn abschießen müsste. Das wäre nicht nur eine Katastrophe für die Population, denn die jungen Männchen müssen noch einen wichtigen Beitrag zum Genpool des Parks leisten, sondern es würde auch den Ökoaktivisten zusätzliche Argumente dafür liefern, ein vollständiges Jagdverbot zu fordern. Hunters Nashorn ist ein älterer Bulle, der genetisch ausrangiert ist und deshalb eher ein Hindernis als einen Mehrwert darstellt; die Kühe wollen sich nicht mehr mit ihm paaren, aber aus Frustration legt er sich trotzdem mit den anderen Bullen an. Indem er das überschüssige Männchen ausschaltet, erweist er der Gruppe langfristig einen Dienst. Wochenlang hat er es auf Fotos und Videos studiert: das Tier ist leicht zu erkennen an einem tiefen Riss im rechten Ohr, einer Folge eines seiner Kämpfe. Wenn Hunter die Gelegenheit bekommt, sich ihm ruhig anzunähern, ist er einfach zu identifizieren. Aber wenn so ein Koloss plötzlich aus dem Gebüsch heraus angreift, ist das Risiko groß, dass er weder die Zeit hat, richtig hinzugucken, noch die Wahl, nicht zu schießen. Denn Nashörner sind aggressive Viecher: Wenn man sie erschreckt, greifen sie an, ohne erst zu überprüfen, ob es sich um Freund oder Feind handelt.


Van Heeren, der die Nachhut gebildet hat, holt Hunter ein.
Relax. Wir sind gerade erst aufgebrochen. Würdest du ihn jetzt schon finden wollen? Je länger wir ihn verfolgen, desto billiger wird er pro Stunde.“
Er grinst und zeigt in Richtung der Führer, die vorgelaufen sind und oben auf dem Hügelkamm auf sie warten.
„Und wer weiß, vielleicht ist er gar nicht zwischen den Sträuchern, sondern steht mitten auf der Savanne und sonnt sich. Lass uns mal hören, was die Jungs zu sagen haben.“
Doch auch von oben aus ist nichts zu sehen. Oder zumindest kein Spitzmaulnashorn. Am Rand einer weiter unten gelegenen Schlucht liegt ein Löwenrudel neben einer angefressenen Zebrakarkasse und macht ein Verdauungsschläfchen; von dort, wo sie stehen, könnte Hunter sie problemlos treffen. Die Tieren haben sie noch nicht bemerkt; die Jäger gehen dem Wind entgegen, und Löwen haben sowieso keinen guten Geruchssinn. Es ist ein wunderschönes Männchen dabei, ein junges, starkes Tier mit tiefschwarzer Mähne. Van Heeren sieht Hunters bewundernden Blick.
Feel free. Ich setze ihn dann auf die Rechnung. Mein Löwenkontingent für diese Saison ist noch lange nicht ausgeschöpft.“


Hunter lächelt; es freut ihn, dass Van Heeren seinen Geschmack so gut kennt. Die meisten Safarianbieter beschränken sich auf eine Onlineliste der möglichen Trophäen, wobei sie nicht zwischen den einzelnen Tieren unterscheiden, sondern Preise pro Spezies und Kopf angeben. Als ob der eine Leopard der andere ist. Echte Berufsjäger kennen ihre Tiere und wissen, welches zu welchem Kunden passt. Denn bei einer guten Jagd sind beide ebenbürtig: Ein alter Jäger sollte keinen jungen, kraftstrotzenden Löwen jagen, und ein unerfahrener Jäger sollte nicht versuchen, sich mit einem gewieften und erfahrenen Leoparden messen zu wollen. Van Heeren bietet Maßarbeit: Wenn er auf seinen Streifzügen ein besonderes Tier entdeckt, erkundigt er sich diskret bei Hunter, ob dieser interessiert ist. Meist kommt es dann zu einer Jagd. Manchmal muss man auch einfach nur abwarten, bis die Zeit reif ist. Das hat Hunter von seinem Großvater gelernt: Jahrelang hatten sie auf ihren Streifzügen denselben Hirschbock beobachtet, bis er eine eindrucksvolle Größe erreicht hatte. Als sein Großvater schließlich beschlossen hatte, dass der Moment gekommen war, ihn zu bejagen, Hunters erster Hirsch, hatte das Tier das genau gespürt und sich nicht mehr sehen lassen. Es hatte sie mehr als zwei Jahre gekostet, ihn doch noch zu erwischen, und in der ganzen Zeit hatte sein Großvater ihm keinen anderen Hirschen gegönnt. Der Hirsch war seine allererste Trophäe gewesen und hatte ihn etwas gelehrt, dass der nie mehr vergessen würde: Respekt vor der Beute. Respekt vor der Beute und Ausdauer.


Entschieden schüttelt Hunter den Kopf. So schön der Löwe auch sein mag, will er sich doch nicht von seinem eigentlichen Ziel ablenken lassen. Wenn er den Löwen doch noch haben möchte, wird er später noch einmal zurückkommen.
„Vielleicht in ein paar Jahren. Reservier ihn mal für mich; der wird mit den Jahren nur noch schöner.“
Mit einer Kopfbewegung deuten die Führer an, dass sie weitergehen können. In kürzester Zeit haben sich die Männer wieder einen ordentlichen Vorsprung erlaufen. Dabei ist Hunter noch recht fit. Wenn er etwas verabscheut, dann keuchende, schwitzende Weiße mit Bauchansatz und teigigem Gesicht, die nur mühsam mit den Trackern Schritt halten können und sich am liebsten mit dem Jeep bis auf Schussweite zu ihrer Beute hinkarren lassen. Er selbst trainiert das ganze Jahr, damit er für die Jagd in Form bleibt. Obwohl er Joggen hasst, läuft er mindestens dreimal pro Woche Runden um den Park oder am Strand entlang und meldet sich regelmäßig, wenngleich unsagbar widerwillig, für einen Halbmarathon an. Ausdauer ist der Schlüssel zu einer gelungenen Jagd, denn der Mensch ist dem Wild gegenüber naturgemäß im Nachteil: Kein anderes Raubtier verbringt seine Tage im Büro, um dann im Urlaub seine Beute zu verfolgen. All seinen Trainingsbemühungen zum Trotz reicht seine Fitness jedoch nie an die der Spurenleser heran, die mühelos dasselbe Lauftempo halten, wenn es sein muss, tagelang; Streifzüge wie dieser liegen ihnen einfach im Blut. Die Hitze und das endlose Laufen scheinen ihnen nichts anhaben zu können: Sie sehen am Ende des Tages noch genauso frisch aus wie morgens beim Aufbruch. Sogar Van Heeren hat inzwischen Schweißflecken auf dem Hemd. Es ist schon nachmittags, die Sonne knallt senkrecht auf sie herab, und der Horizont hat sich in einem Kräuseln aufgelöst. Auch das Elefantengras ist zurückgewichen. Sie laufen jetzt über harte, rote Erde, aber das macht das Spurensuchen nicht einfacher, denn die Hitze hat den Boden so ausgehärtet, dass sogar das Gewicht eines Nashorns kaum Abdrücke hinterlässt. Trotzdem scheinen sich die Führer ihres Kurses sicher; sie haben sogar das Tempo erhöht, was vermuten lässt, dass sie sich ihrem Ziel nähern. Da bleibt einer abrupt stehen und winkt. Mit zufriedenem Lächeln zeigt er auf einen abgebrochenen Zweig eines Strauches. „Ihr Nashorn ist ein Feinschmecker. Es knabbert nur die jungen Triebe und lässt die alten Blätter dran.“ Er nimmt den Zweig, drückt und rollt ihn zwischen den Fingern. Erst geschieht nichts, dann, als der näher am Stamm presst, bildet sich ein kleiner Tropfen Pflanzensaft.
„Ich schätze, dass er eine halbe Stunde Vorsprung hat, mehr nicht.“
„Wie weißt du, dass das meins ist?“
„Das weiß ich nicht. Das hoffe ich.“
Fröhlich sieht er Hunter an.
„Aber ich habe ein gutes Gefühl dabei. Wollen wir wetten?“
Hunter schüttelte die ihm entgegengestreckte Hand.
„Zwanzig Dollar.“
„Fünfzig, wenn wir ihn innerhalb der nächsten Stunde finden.“
„Deal.“
Van Heeren schüttelt den Kopf.
„Das Geld bist du los.“
Hunter zuckt mit den Achseln. Ihm ist klar, dass der Tracker die Wette nur vorgeschlagen hat, weil er sich seiner Sache sicher ist, aber wenn es stimmt, dass sie seinem Bullen unmittelbar auf den Fersen sind, gönnt er ihm die fünfzig Dollar von Herzen.

Und wirklich – kurz darauf finden die Führer im Schatten der Sträucher eine frische Spur. Ein großer, dreizehiger Abdruck zeichnet sich deutlich im roten Sand ab, mit verschlissenem Profil, eindeutig ein älteres Tier. Hunter vertraut darauf, dass die Führer den Fußabdruck verschiedener Tiere so fehlerlos auseinanderhalten können wie ein Schuhverkäufer den von zwei Sneakermarken, deshalb nimmt er nach einem bestätigenden Nicken ihrerseits sein Gewehr von der Schulter und lädt es durch. Nicht nur seine Waffe, sondern auch seine Sinne sind jetzt scharf; ab jetzt reagiert er auf jedes Geräusch, jedes Rascheln in den Sträuchern, jeden brechenden Zweig und versucht, sich so lautlos wie möglich zu bewegen. Van Heeren, der jetzt vor ihm läuft, ist auf seinen Sandalen so gut wie unhörbar. Wir macht er es bloß? So sehr sich Hunter auch Mühe gibt, hat er doch das Gefühl, er klingt wie ein Elefant, der durch ein Bambusfeld bricht. Die Vegetation wird immer dichter und die Dornen haken sich an seinen Kleidern fest. Immer wieder muss er sie vorsichtig lösen, damit die Zweige nicht abbrechen. Nashörner haben ein phänomenales Gehör und einen perfekten Geruchssinn, deshalb hängt der Jagderfolg von seiner Geschicklichkeit ab. Ein knackender Zweig kann ausreichen, um das Tier in die Flucht zu schlagen oder zum Angreifen zu bringen. Die Führer sind verstummt. Mit einfachen Gebärden weisen sie einander auf Spuren hin und korrigieren die Richtung. Von Zeit zu Zeit wirft einer der beiden eine Handvoll trockener Erde in die Luft, um sicher zu sein, dass sie weiterhin gegen den Wind laufen. Wenn das Tier sie wittert, ist es vorbei. Wenig später hält einer der Tracker noch einmal an. Hier hat das Tier sich kurz ausgeruht, im Schatten eines der Sträucher: Im weichen Sand zeichnet sich der Umriss eines massigen Körpers ab. Hunter geht neben dem Abdruck, in dem man sogar die Hautfalten noch erkennen kann, in die Hocke. Das Tier kann noch nicht lange weg sein. Hunters Fingerspitzen kribbeln; er empfindet eine Mischung aus Angst und Aufregung. Ein Erfolg gleich am ersten Tag wäre schön. Das Gelände ist jetzt wesentlich geeigneter als heute Morgen befürchtet. Hier stehen zwar Sträucher, aber es ist nicht dicht bewaldet. Die Anordnung der Sträucher ist eher von Vorteil. Sie bieten Deckung, um sich der Beute unbemerkt nähern zu können, und wenn sich das Nashorn auf sie zu bewegen sollte, hören sie es auf jeden Fall. Die Tracker bewegen sich um ein Dickicht herum. Hunter spürt das Adrenalin. Quälend langsam tasten sie sich vor, immer wieder mit kurzen Pausen, um sicherzugehen, dass das Tier sie nicht bemerkt hat. Kurz meint er, durch die Blätter einen schwarzen Schatten zu erahnen, doch bevor er genauer hinsehen kann, schließt sich das Blattwerk wieder. Da bleiben die Tracker abrupt stehen. Der ältere dreht sich zu Hunter um und reibt mit breitem Grinsen den Daumen am Zeigefinger: Paytime!


Vorsichtig kommt Hunter näher. Ist es wahr? Da, als zöge jemand eine Augenbinde ab und rufe: „Überraschung!“, sieht er es: Mitten auf einer kleinen Lichtung, kaum dreißig Meter von ihnen entfernt, steht ein Schwarzes Nashorn und knabbert an einem Strauch. Von da, wo er steht, kann Hunter das Knirschen seiner Backenzähne hören, die die Akazienzweige zermahlen. Sein Herz beginnt zu pochen, das Blut rauscht in seinen Ohren, er atmet langsam ein und aus, zutiefst beeindruckt vom schieren Umfang des Tieres. Der Bulle ist viel größer, als er dachte; Hunter schätzt ihn auf über drei Meter lang. Das Nashorn hat sie nicht gewittert, so viel ist sicher; es zieht mit seinem Horn einen frischen Zweig herunter, bricht ihn ab und frisst genüsslich weiter. Auch sein Gefährte, der kleine Madenhacker auf seinem Rücken, der sich dort von Zecken ernährt und als Gegenleistung Wache hält, hat sie noch nicht gesehen. Alles ist friedlich. Friedlich und still.


Hunter nimmt sich die Zeit, das Nashorn genau zu betrachten. Alles an dem Tier, von seinem klobigen Körper bis zu den plumpen Beinen erscheint ihm grob skizziert, ein erster Entwurf, der noch ausgearbeitet werden sollte, aber vom Schöpfer verlegt wurde. Ein vergessener Prototyp einer Rasse, die sich nicht weiterentwickelt hat. Schwere Hautfalten fallen über seinen Rumpf wie die Schulterpanzer einer Kettenrüstung; die dicke Haut ist so spröde, dass sie schuppig wirkt. Das ganze Tier hat etwas von einem prähistorischen Reptil: Die Fettrollen im Nacken sehen aus wie der Kragen eines Dinosauriers, und auch der Kopf mit der auffälligen Oberlippe, die nicht weiß, ob sie Schnabel oder Maul sein soll, hat etwas Primitives. Doch in dem klaren, schwarzen Auge, das von zarten Wimpern gesäumt ist, liegt eine seltsame Sanftheit, die in krassem Kontrast zu dem rauen Äußeren des Tieres steht; ja, sein Blick hat sogar fast etwas Melancholisches. Ein unbekanntes Gefühl überfällt Hunter, und für einen Augenblick weicht die Spannung der Jagd einem anderen Gefühl. Nicht Rührung, sondern eher eine Art Ehrfurcht, die die Nähe dieses Wesens, das so viel älter ist als er, in ihm auslöst. Noch nie zuvor hatte er das Gefühl, dem Beginn der Evolution so nah zu sein, als würde er zurückkatapultiert in eine Zeit vor Anfang der Menschheitsgeschichte.


Der Tracker stupst ihn an. Worauf wartet er? Hunter reißt sich zusammen und richtet den Feldstecher auf die Ohren des Tieres. Nashörner haben kleine Ohren, die sie unabhängig voneinander bewegen und mit denen sie die ganze Umgebung scannen können; beide von dickem, lichtbraunem Flaum gesäumten Ohren sind entspannt nach vorne gerichtet. Der Bulle ist voll und ganz mit Äsen beschäftigt; er sucht sich die jüngsten, saftigsten Blätter so sorgfältig aus, als wisse er, dass es seine Henkersmahlzeit ist. Gespannt lässt Hunter seinen Blick über den Kopf gleiten. Die zwei Tracker sind überzeugt, dass es sich um das richtige Tier handelt, und auch er fühlt instinktiv, dass das hier sein Bulle ist. Aber aus diesem Winkel ist der Riss im Ohr nicht zu erkennen, und sein Bauchgefühl reicht nicht; er muss sicher sein. Auch Van Heeren späht durch sein Fernglas. Schließlich schüttelt er den Kopf; sie werden versuchen müssen, näher heranzukommen, auf die Gefahr hin, dass die Beute sich auf und davon macht. Oder, wahrscheinlicher, angreift, denn Nashörner sind keine Fluchttiere, sondern Kämpfer. Hunter fühlt kalten Schweiß den Nacken hinabrinnen. Sein ganzer Körper ist jetzt aufs Äußerste gespannt, seine Sinne geschärft; der Ballast der Zivilisation fällt von ihm ab. Das hier, spürt er, ist Leben. Hier, in unmittelbarer Nähe der Gefahr, kann er sein, wer er wirklich ist. Er, Hunter, Mann.

So leise wie möglich zieht sich die Gruppe ein Stück zurück, um sich aus einer anderen Richtung anzupirschen. Das ist alles andere als ideal, denn so spät am Nachmittag dreht der Wind ständig. An den kurz angebundenen, ruppigen Gebärden der Tracker kann Hunter ihre Verärgerung ablesen: Er hätte dieses Nashorn völlig risikolos schießen können. Welcher Idiot verschenkt eine solche Gelegenheit? Ist es Unverständnis, oder sind sie beleidigt, dass er ihrem Urteil nicht vertraut? Die idiotischen Weißen mit ihren idiotischen Regeln; Jagen ist Jagen und keine Buchhaltung, also eine Sache des Instinkts. Nüchtern betrachtet ist es auch idiotisch, der ganze Aufstand wegen eines einzigen Nashorns. In den Vierzigerjahren hatte der berühmte Berufsjäger J.A. Hunter sie noch scharenweise abgeknallt; er hält den Weltrekord Nashornschießen. Nicht als Sport, sondern im Auftrag der für den Wildbestand zuständigen Behörde: Die Kolonialherren hatten einige örtliche Stämme umgesiedelt, und damit diese nicht jagten, sollte Ackerland urbar gemacht werden. Hierfür mussten die Sträucher verschwinden, was den zusätzlichen Nutzen hatte, der Tsetsefliege, die in den Wäldchen lebte und für den Tod vieler Nutztiere verantwortlich war, den Garaus zu machen. Leider waren diese Wäldchen auch das bevorzugte Territorium der Nashörner, die deshalb zuerst aufgeräumt werden mussten, bevor sie ihrerseits die Holzfäller aufgeräumt hätten. Innerhalb von weniger als einem Monat tötete J.A. Hunter über tausend. Ein sinnloses Blutbad, wie sich später herausstellte: Das Gebiet war unbewohnbar. Tausend tote Nashörner. Immer, wenn Hunter sich das vorzustellen versuchte, befiel ihn derselbe Unmut wie früher als Kind, wenn sein Großvater ihm vom Afrika seiner Jugend erzählte, als er zusammen mit jenem Hunter dort auf die Jagd ging. Ein Kontinent, auf dem es vor Wild wimmelte, unberührt und unendlich reich. Schon damals, als kleiner Junge, hatte er, wenn er den Geschichten seines Großvaters lauschte, das Gefühl, dass ihm etwas genommen wurde. Gestohlen. Etwas, worauf er ein Anrecht hatte. Und dass er das wahre Afrika, nach dem er sich so sehnte, nie zu sehen bekommen würde, weil es schlichtweg nicht mehr existierte. Mit der Zeit begriff er, dass sein Großvater dieses Gefühl auch gehabt hatte. Sogar J.A. Hunter schrieb voller Nostalgie über ein verschwundenes Afrika, das Afrika vor den Weißen, wo Elefanten und Nashörner einfach stehenblieben, wenn man sich ihnen näherte, weil sie noch nie bejagt worden waren; heutzutage nach hundert Jahren Jagd waren die Tiere auf der Hut vor jedem Menschen, der ihren Weg kreuzt. Seit sie geschützt werden, wagen sie sich wieder näher an die Menschen heran. Die Anpassungsfähigkeit des Wilds erstaunt Hunter immer wieder; manche Tierarten scheinen genau zu wissen, wo das Reservat endet und die Jagdgebiete beginnen. Aber ein Blutbad, wie es J.A. Hunter anrichtete, wäre heutzutage schon rein zahlenmäßig nicht mehr möglich. Tausende dieser Kolosse tot. Hunter empfindet einen körperlichen Widerwillen bei der Vorstellung dieses gigantischen Kadaverbergs. Wahnsinn. Sogar der alte Hunter litt deswegen unter Albträumen: Im Schlaf rannten ganze Nashornherden auf ihn zu. Kurz darauf wurde zur Kompensation an einem anderen Ort, einem dünnbesiedelten Gebiet, ein Zuchtprogramm ins Leben gerufen. J.A. Hunter hatte sich maßlos über die Launenhaftigkeit der Menschen geärgert: Erst eine Tierart in einem Monat so gut wie ausrotten, um dann alles dafür zu tun, dieselbe Tierart zu beschützen und zu vermehren. Seitdem, findet Hunter, ist das Paradox nur noch größer geworden: Hier, wo die Regierung jedes Jahr eine festgelegte Anzahl Jagdlizenzen ausgibt, nimmt die Zahl der Nashörner wieder zu; in den Nachbarländern, wo die Tiere streng geschützt werden, haben Wilderer freies Spiel und werden Nashörner geschossen wie die Kaninchen. Jedes Jahr werden mindestens tausend Tiere gewildert: Feingemahlen sind ihre Hörner auf dem asiatischen Markt grob geschätzt bis zu 80.000 Dollar pro Kilo wert, ungefähr der doppelte Goldpreis. Wie will man sie da beschützen, in einem Land, in dem drei Viertel der Bevölkerung in Armut lebt und Korruption die traditionelle Staatsform ist. Genauso gut kann man ein paar Goldbarren in einem Park hinterlassen und daneben ein Schild aufstellen mit der Bitte, sie nicht mitzunehmen. Nur dank der sündhaft teuren Jagdlizenzen kann in solchen Ländern etwas für die Arterhaltung getan werden, denn nur etwas, das einen Preis hat, ist es wert, geschützt zu werden. Hier in Afrika interessiert sich niemand für den Löwen Cecil und seine Artgenossen. Wenn ihnen kein ökonomischer Wert zugeteilt wäre, würden sie die niedlichen Kätzchen hier einfach abknallen, für den Export oder den Suppentopf; die Rührung, mit der westliche Touristen wilde Tiere beobachten, ist ein neumodischer Luxus. Ein Reichenhobby. Die örtlichen Behörden tun nur etwas gegen die Wilderei, wenn korrupte Politiker am Schutz der Tiere mehr verdienen als an deren heimlichem Abschlachten. Und auch die Ranger, die die schwerbewaffneten Wilderer aufspüren sollen, müssen gut bezahlt werden, damit sie ihre Leben riskieren anstatt wegzugucken. Ethik, hat Hunter gelernt, hat überall auf der Welt dieselbe Farbe: die des Dollars. Ob es einem gefällt oder nicht, die Trophäenjagd ist die einzig funktionierende Form des Artenschutzes und die einzige Überlebenschance dieser Tierart. Mit dem sechsstelligen Betrag, den er hingeblättert hat, um gleich diesen Bullen schießen zu dürfen, finanziert er nicht nur ein Zuchtprogramm, das den Fortbestand der Art sicherstellen soll, sondern bietet dem Rest der Herde auch eine faire Chance auf Schutz. Aber das scheinen die „Naturschützer“ einfach nicht begreifen zu können.

Eine Hand auf seinem Arm lässt ihn aus seinen Gedanken aufschrecken; einer der Tracker zeigt durch ein Loch im Blattwerk in Richtung der Lichtung. Schau. Jetzt. Das Nashorn reißt an einem Zweig, der nicht nachgeben will, schüttelt den Kopf, ringt mit dem widerwilligen Strauch; sofort sieht Hunter das beschädigte Ohr. Van Heeren neben ihm nickt. Hunter legt das Gewehr an und zielt. Noch einen Moment, nur einen, bewundert er die Schönheit des Tiers. Groß und majestätisch, ein Phantom aus einer anderen, vergangenen Zeit, in der es Herr über die Welt war, lange bevor der Mensch über die technischen Möglichkeiten verfügte, die ihm ermöglichen, diesen Koloss mühelos zu töten. Seine Position ist perfekt: Er kann ihn genau zwischen Ohr und Auge treffen; das Nashorn wird sofort tot sein. Ohne zu wissen, woran es gestorben ist. Will er das? So ein mächtiges, altes Tier töten, ohne dass es seinen Verfolger auch nur bemerkt hat? Etwas in ihm protestiert, verlangt Blickkontakt, ein Zeichen, dass sich das Nashorn zumindest seiner Anwesenheit bewusst ist. In seinem tiefsten Inneren ist er versucht, einen Angriff zu provozieren: Er will die Kraft des Tieres sehen, die Bedrohung spüren. Das hier ist ihm zu einfach. Sein Wunsch ist mit dem von Safarifotografen vergleichbar: In den ersten Tagen geben sie sich mit dem Fotografieren friedlich schlafender Tiere zufrieden, aber früher oder später wollen alle ein Bild von einem angreifenden Tier, selbst wenn das bedeutet, dass ein Berufsjäger es dann erschießen muss, um sie zu retten. Denn die wahre Kraft des Elefanten oder Löwen zeigt sich erst, wenn er auf dich zu gerannt kommt, nicht wenn er friedlich durch die Savanne zieht. Kein einziger wahrer Jäger will sich an einer Sitting duck vergreifen. Selbst dann nicht, wenn die Ente eine Tonne wiegt.


Die Tracker neben ihm werden nervös. Warum schießt er nicht? Zurecht. Er darf ihr Leben nicht in Gefahr bringen. Er hat für die Trophäe bezahlt, nicht für eine Nahtoderfahrung. Er legt an, zielt, atmet ein. Im Bruchteil einer Sekunde spielt sich auf seine Netzhaut in Zeitraffer ab, was kommen wird: Er wird abdrücken, die Kugel wird den Lauf verlassen, im Nullkommanichts seine Beute erreichen und das Tier genau da treffen, wo es am verwundbarsten ist. Das Nashorn wird versuchen, sich vom Knall abzuwenden, aber hoffnungslos zu spät sein; die Kugel ist immer schneller. Auf halbem Wege in seiner Bewegung wird es zusammensacken und umfallen. Die Tracker werden sich ihm vorsichtig näher, und sobald feststeht, dass das Tier tot ist, wird Van Heeren es fotografieren, nicht als Trophäe, sondern als Beweis, und die Behörden informieren. Danach müssen sie auf den Truck warten, der das Tier abtransportiert und zum Präparator bringt, der seine Trophäe ausstopfen wird, was ihn noch mal zusätzlich eine Stange Geld kosten wird. DNA-Proben werden genommen, und sobald der Papierkram geregelt ist, wird das Tier gehäutet und das Fleisch verkauft. Verschwendung ist Sünde. Mit diesem Gedanken legt Hunter an: Es wäre doch schade, diese Gelegenheit zu verpassen.
Doch dann erscheint aus dem Nichts ein zweiter Bulle. Mit wenigen Schritten steht er zwischen ihm und seiner Beute, schnaufend und knurrend. Bestürzt senkt Hunter sein Gewehr. Selbst wenn das andere Nashorn das Feld räumt, kann er es jetzt nicht mehr wagen zu schießen; der Knall würde es aufschrecken, und wenn es angreift, was es in seiner Erregung sicher tun würde, müsste er es ebenfalls abschießen. Er hat seine Chance vertan. Verzweifelt sieht er sich nach Van Heeren um, der nur mit den Schultern zuckt.
„So ist die Jagd. Oft bieten sich die besten Chancen, wenn man sie nicht nutzen kann.“
„Roosevelt?“
„Nein, Hunter. Der andere. Lass uns gehen.“

 

Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwindet er im Gebüsch. Zögernd sieht Hunter zu den Nashörnern hinüber; sein Instinkt protestiert dagegen, diese Beute in Schussabstand entwischen zu lassen. Die zwei Kolosse stehen jetzt dicht beieinander: Der junge Bulle hat sich seinem Rivalen auf ein, zwei Meter genähert und wühlt herausfordernd mit seinem Horn im Sand. Hunters Nashorn hat aufgehört zu fressen und seine Ohren zucken unruhig. Langsam wendet es sich seinem Herausforderer zu, unentschieden, ob es ihn ignorieren oder zurechtweisen soll. Kurz stehen die Tiere still Nase an Nase. Dann deutet der junge Bulle einen Angriff an, den der alte Stier völlig ignoriert. Der junge, beleidigt wegen der Gleichgültigkeit, auf die seine Provokation stößt, will es dabei nicht lassen und rammt dem älteren den Kopf in die Schulter. Elegant wendet das alte Tier sich ab, sodass sein Angreifer ins Leere läuft, und trabt gelassen ein Stückchen weiter bis zur anderen Seite der Lichtung. Sofort schießt sein Herausforderer ihm hinterher; blitzartig wendet der alte Stier und blockt ihn mit lautem Schnaufen ab. Fasziniert sieht Hunter zu: Zwischen den zwei wilden Tieren, die gerade noch wie klobige Standbilder wirkten, entspinnt sich ein rasanter Tanz. Was für mächtige Tiere! Was für eine Kraft! Jemand zerrt an seiner Schulter. Van Heeren, mit dem Gewehr im Anschlag, deutet ihm mit einer kurzen Kopfbewegung an, dass er machen soll, dass er hier wegkommt, und zwar schnell. Hunter setzt einen Schritt rückwärts, zu abrupt, zu schnell. Ein trockener Ast knackt unter seinem Fuß; in der Stille des Busches klinkt das Geräusch wie ein Gewehrschuss. Sofort drehen sich die kleinen, muschelförmigen Ohren des älteren Bullen in seine Richtung auf der Suche nach der Geräuschquelle. Hunter duckt sich, doch das Nashorn hat ihn schon gesehen: Eine Sekunde lang sehen Jäger und Beute sich an. Doch dann rammt das junge Nashorn erneut in die Flanke; sofort konzentriert er sich wieder auf den Kampf. Mit seinem vollen Gewicht zwingt er das junge Tier einen Schritt zurück. Kopf an Kopf bleiben sie stehen, Schwanz gesenkt, Horn voraus: dickköpfig und mürrisch, wie diese Tierart nun mal ist. Vierbeinige Miesepeter, die an einem schlechten Tag nur zu gern aus einem Jeep einen schrottreifen Blechhaufen machen, einfach, weil sie es können. Aber der Alte will keinen Ärger, zumindest nicht heute. Gleichgültig dreht er seinem Angreifer den Rücken zu und verschwindet im Gebüsch. Der dicke, dunkelgraue Hintern ist das letzte, was Hunter von seiner sündteuren Trophäe sieht, dann ist sie weg. Der junge Stier bleibt verdutzt stehen und fängt dann an, auf der Lichtung hin und her zu traben, auf der Suche nach etwas, woran er sich in seinem Adrenalinrausch abreagieren kann. Hunter bleibt so still wie möglich stehen; wenn der Bulle ihn jetzt wittert oder hört, wird er ihn angreifen. Doch das Nashorn schüttelt nur ein paarmal verärgert den Kopf und verschwindet dann auf der gegenüberliegenden Seite im Gebüsch.


Hunter bleibt stehen, bis er sicher ist, dass beide Tiere wirklich weg sind; dann sichert er sein Gewehr, hängt es sich über die Schulter und geht zur Lichtung hinüber. Van Heeren steht etwas weiter weg im spärlichen Schatten eines kümmerlichen Bäumchens und wartet auf ihn. Der Lauf seines Gewehrs zeigt in die Richtung, in der das junge Nashorn zwischen den Sträuchern verschwunden ist.
„Bedank dich bei deinem Schutzengel. Das hätte auch schiefgehen können.“


Erst jetzt wird es Hunter bewusst: Wenn er von dem Ort aus geschossen hätte, an dem er seinen Bullen zuerst gesehen hatte, wäre ihnen der aggressive Stier wahrscheinlich in den Rücken gefallen. Er wechselt einen Blick mit Van Heeren: Beiden wird klar, wie viel Glück sie gehabt haben. Zusammen gehen sie zurück zu den Trackern. Für heute ist es vorbei. Die Jagd fortzusetzen mit dem anderen Nashorn in der Nähe ist ausgeschlossen. Hunter bedauert zwar, dass ihm seine Trophäe entkommen ist, doch das imposante Schauspiel, das er erleben durfte, hat seinen Respekt vor seiner Beute nur noch vergrößert.