Yorick Goldewijck - Films die nergens draaien

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»Du kannst Computerspiele aus der Zukunft spielen und tust das nicht mal? Das ist einer meiner großen Träume«, sagte Dikkie.
»Das finde ich eigentlich einen ziemlich blöden Traum«, sagte Cato.
»Ach ja? Was ist denn dein großer Traum?«
»Och, ich habe sicher zehntausend.«
»Nenn mir einen.«
»Fotografin werden, Zeitreisende werden, aber das bin ich ja eigentlich schon, auf einem Eisbrecher mitfahren, den Nordpol überqueren, oh ja, und Kungfu-Meisterin werden natürlich. Und am allerwichtigsten ist: Nie so werden wie mein Vater. Und …« Cato schwieg und dachte an ihre Mutter. An die Filme, die nirgends laufen und die sie schon immer hatte sehen wollen.


Cato


Cato war zwölf, als ihr Vater ihr sagte, sie solle so langsam mal erwachsen werden. Er sprach nicht viel mit ihr, deshalb fand sie die Tatsache an sich schon bemerkenswert. Da war es natürlich schade, dass er dann ausgerechnet so einen Quatsch sagte. Cato war ein Kind und brauchte noch lange nicht erwachsen zu werden. Und sowieso wollte sie auf keinen Fall so erwachsen werden wie er.
Ihr Vater tat nämlich so gut wie nichts, außer geistesabwesend zu sein. Er starrte geistesabwesend zum Fernseher hin, die Wand an, aus dem Fenster. Er stand morgens geistesabwesend auf, nahm sich geistesabwesend einen Kaffee und starrte ungefähr eine halbe Stunde geistesabwesend nach draußen. Cato war sich sicher, dass er die Aussicht nicht wahrnahm. Nicht die Kondensstreifen, die sich langsam im Blau des Himmels auflösten, nicht die Frau, die wie eine Ballerina hinter ihren Hunden her durch die Straße tänzelte. Sein Blick war leer, und sobald sein Kaffeebecher genauso leer war, ging er, oft ohne ein Wort zu sagen, zur Tür hinaus zur Arbeit. Wenn Erwachsensein so war, dann würde sie nie erwachsen werden, hatte Cato beschlossen. Auch nicht als Erwachsene.


Jetzt stand sie selbst am Fenster und sah hinaus. Nicht geistesabwesend, dafür mit Kaffee, in Gedanken versunken.


Sie sah Cornelia den Gartenweg heraufkommen. Mit einem Eimer voller Putzmittel in der einen und Schrubber und Sprühflasche in der anderen Hand und einem säuerlichen Gesichtsausdruck, als könnte sie den Schmutz im Haus bis draußen riechen. Cornelia war eine Nachbarin, aber sie benahm sich so, als wäre sie Catos Mutter.


Dabei war niemand Catos Mutter. Zumindest niemand Lebendiges.


 
Ein weich fallendes rotes Sommerkleid


Als Cato auf die Welt kam, verließ ihre Mutter diese. Sie war fast auf die Minute genauso lang tot, wie Cato lebte. Das Einzige, was Cato über sie wusste, waren die wenigen Dinge, die ihr Vater ihr erzählt hatte. Sie hatte nur ein einziges Foto von ihr. Und ein Kleid.
Es war ein Foto von Cato und ihrer Mutter zusammen. Ihre Mutter saß auf einer Bank im Grünen in der Sonne. In einem weich fallenden roten Sommerkleid mit einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht. Cato befand sich im Bauch ihrer Mutter, wahrscheinlich ohne Lächeln, denn dafür war sie natürlich noch zu blöd. Das Foto war wenige Wochen vor ihrer Geburt, wenige Wochen vor dem Tod ihrer Mutter entstanden.


Und das Kleid war das, das ihre Mutter auf dem Foto trug. Es hatte einen festen Platz in Catos Kleiderschrank, und jeden Morgen, wenn sie die Schranktür öffnete, sah sie es kurz an. Abgesehen von Cato selbst waren diese zwei Dinge der einzige Beweis im ganzen Haus, dass es ihre Mutter wirklich gegeben hatte.


Cato war noch lange nicht erwachsen, doch sie war alt genug, um Schwielen am Herzen zu haben. In erster Linie wegen des Schuldgefühls. Natürlich hatte sie es nicht mit Absicht getan, aber Tatsache war: Wenn Cato nicht geboren wäre, würde ihre Mutter noch leben. Cato sah manchmal sicher eine Stunde lang in den Spiegel und wusste nicht, was sie von dem Mädchen halten sollte, dass sie dort sah. Manchmal empfand sie Abscheu und Wut auf sich selbst. Manchmal empfand sie Wut auf alles und jeden, auf die ganze Welt. Weil es eine Welt war, in der es Cato und ihre Mutter nicht beide geben konnten. Cato glaubte nicht, dass sich irgendwo im Himmel jemand ins Fäustchen lachte, aber trotzdem fühlte es sich gemein an von der Welt. Als hätte die Wirklichkeit sich schon ab dem Moment, in dem Cato geboren wurde, gegen sie verschworen.


Und manchmal – und das passierte ihr in den letzten Jahren immer öfter – empfand sie gar nichts. Als ob sich ihre Mutter mit der Zeit verflüchtigte, und sie selbst immer gleichgültiger wurde. Und das fühlte sich eigentlich am schlimmsten an.
Die Haustür öffnete sich und Cato überlief ein Schauer. Das kam ein bisschen vom Kaffee, ein bisschen von Cornelias widerlich süßem Parfüm, das in die Küche waberte. Und vielleicht ein bisschen wegen ihrer Mutter.


Rezept fürs Vergessen

 

Man nehme einen perfekt gestrichenen Teelöffel Rattengift – perfekt gestrichen, also nicht Pi mal Daumen, sondern mit der Lupe. Wenn es auf Genauigkeit ankam, war es sehr wichtig, genau zu sein. Rezepte wie Regeln mussten exakt befolgt werden. Einen perfekt gestrichenen Teelöffel Rattengift also. Außerdem eine halbe Tasse Reinigungsessig – wiederum präzise abgemessen. Fünfzig Gramm Fischgräten, aber nur die richtig harten, die im Hals steckenbleiben. Eine ganze Flasche flüssiges Scheuermittel, zwei Scheuerschwämme und zu guter Letzt zehn dieser winzigen, giftigen Äpfelchen. Das Ganze in einem großen Topf kochen, bis überall im Haus grüne, gelbe und braune Schwaden hängen, und schon hatte man, nach dem Originalrezept der Meisterköchin Cato: Cornelia.


Cornelia kam ein paarmal die Woche zum Putzen. Dafür wurde sie bezahlt, aber nicht dafür, dass sie sich überall einmischte. Das tat sie gratis. Und für Catos Gefühl mischte sie sich überall ein, vorzugsweise in Dinge, die sie gar nichts angingen. Wie die Unordnung in Catos Zimmer, die Cato gemütlich fand und in der sie alles, was sie suchte, gerade besonders gut finden konnte. Doch Cornelia nannte es einen Saustall, in dem man nichts wiederfand, außer schimmeligen Pizzastücken. Und obwohl Cato Cornelia schon sehr oft wütend zu verstehen gegeben hatte, dass sie die Finger von ihren Sachen lassen solle, fand sie ihr Zimmer nach der Schule regelmäßig in tadellosem Zustand vor, alles in Schränken und Schubladen aufgefaltet, gestapelt und sortiert.
Als sie Cornelia in die Küche trippeln hörte, nahm Cato einen extragroßen Schluck Kaffee, den sie nur mit Mühe runterkriegte. Sie mochte Kaffee eigentlich gar nicht. Sie trank ihn nur, weil Cornelia gesagt hatte, dass er schlecht für sie sei.
»Kaffee und Zucker und Cola sind Gift für deinen Körper, Liebes«, hörte sie deren liebliche Stimme in ihrem Kopf. »Damit braut man bloß neue Wutausbrüche.«


Wutausbrüche, die Cato überhaupt nicht hatte. Gut, vielleicht manchmal bei Cornelia, doch die würde sogar ein Faultier auf die Palme bringen.
»Aber wir räumen sie einfach weg«, sagte Cornelia immer, »in ein kleines Kämmerchen in deinem Kopf, und dann Tür zu.«
Das war Cornelias Lösung für alles, was ein bisschen piekte oder zwickte, für alles, in das sie sich ungefragt einmischte: ein Kämmerchen. Augen zu, wegstecken, tun, als ob es nicht da sei.
Es machte Cato rasend.
Sie erschauerte erneut, nahm ihren Rucksack vom Küchentisch und lief schnurstracks an Cornelia vorbei zur Haustür. Die sah sie dabei nur kopfschüttelnd an und streckte schnüffelnd die Nase in die Luft.
»Ich rieche doch wieder Kaffee, Liebes.«


Musik von früher


Es war noch überhaupt nicht kalt draußen. Der Herbst hatte gerade erst angefangen. Es geschah in den feuerroten, tieforangen und knallgelben Wochen, den Wochen, in denen die Sonne die Welt noch nachglühen lässt, den Wochen, bevor die Welt verstummt. Von allen Jahreszeiten mochte Cato den Herbst am liebsten. Es war die Jahreszeit, in der alles eine größere Bedeutung bekam. Alles, was früher war, alles, was später einmal sein würde. Und alles von jetzt, das gerade in diesem Moment an einem vorbeizog. Der Herbst hatte eine Traurigkeit, in die sie eintauchen wollte. Sie hatte im Internet nach dem dazugehörigen Wort gesucht. Und als sie es fand, stellte sich heraus, dass es sogar ein sehr schönes Wort war: Melancholie.
Sie radelte zu der Wiese-die-es-nicht-gab auf der anderen Seite des Dorfes. Das tat sie fast jeden Tag. Sie lehnte ihr Fahrrad an einen Baum und legte sich mitten auf die Wiese. Sie pflückte einen Grashalm, steckte ihn sich zwischen die Lippen und guckte zur Straße. Dort schlenderte der Morgen vorbei. Ein Mann mit einer Einkaufstasche, eine telefonierende Frau, ein paar Autos und Fahrräder, die ersten fallenden Blätter.


Die Wiese-die-es-nicht-gab gab es natürlich sehr wohl, sonst hätte Cato dort nicht liegen können. Aber abgesehen von Cato schien niemand sie zu sehen. Alle sahen nur das spektakuläre Haus links davon. Mit seinen knallroten Fensterrahmen und den blauen Mauern schien es direkt aus der Zukunft zu kommen. Und alle sahen das noch spektakulärere Haus rechts davon, mit Türmchen, die wie Raketen aus der Mauer ragten. Aber die Wiese-die-es-nicht-gab, genau zwischen diesen unglaublichen Häusern, entzog sich hartnäckig allen Blicken.


Außer denen von Cato. Sie hatte geübt, „umgekehrt zu gucken“, wie sie es nannte. Nicht das anzusehen, das automatisch die Aufmerksamkeit auf sich zog, sondern genau daneben zu gucken. Da fand sie eine ganze Welt, vor aller Augen versteckt.
Sie hatte immer einen Fotoapparat dabei, um diese ungesehenen Dinge festzuhalten. Sie machte nie Fotos von grübelnden Menschen oder beeindruckenden Gebäuden oder romantischen Sonnenuntergängen oder interessanten Wolkenformationen. Sie machte ausschließlich Fotos von Dingen, die so nichtssagend und unauffällig waren, dass niemand sie sah. Dass wirklich niemand sie sah, als ob sie nicht da wären. Wie die Wiese-die-es-nicht-gab. Ihr Computer war voller Fotos von Vorgärten, Zäunen, Nischen, Standbildern, Türklinken. Dinge, die es gab, aber für wen? Wer würde merken, wenn sie nicht da wären? Und wenn niemand sie bemerkte, gab es sie dann überhaupt wirklich? Vielleicht nicht, dachte Cato. Vielleicht wurden sie erst echt, wenn sie ihren Fotoapparat auf sie richtete. Das fand sie eine unglaublich großartige Idee.


Es war der erste Sonntag der Herbstferien. Der Samstagstrubel war vorbei, und in der Luft hing eine seltsame Stille, als sei der Himmel so weit, dass alle Geräusche in ihm verlorengingen.


Die Sonne auf Catos Gesicht fühlte sich warm an, und mit dieser Wärme fiel ihr aus dem nichts plötzlich ihre Mutter wieder ein. Cato erschrak immer, wenn das so plötzlich geschah. Es passierte immer seltener, aber dieses Mal war das zweite Mal an einem Morgen. Und obwohl sie es kaum zu denken wagte, wollte sie diesen Morgen nicht mit Gedanken an ihre Mutter verbringen.
Sie spuckte den Grashalm aus, öffnete den Rucksack und holte eine große Flasche Cola und einen Stapel Comics heraus.
Sie setzte sich auf, sodass die Sonne ihr direkt auf den Kopf schien, und fühlte, wie sich eine Gänsehaut von dort über Rücken und Arme ausbreitete, bis es an den Zehen kribbelte. Als ob ihre Füße die eiskalte Brandung eines riesigen Ozeans berührten. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. Sie nahm einen Comic (Zombie-Apokalypse II: Die Schlachtung des Babyzombiekönigs) und fing an zu lesen.
Doch gerade, als sie sich in den Comic vertiefen wollte, beschlich sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Die Wiese-die-es-nicht-gab war verlassen, aber so fühlte es sich nicht an. Cato wusste genau, dass, wenn sie von ihrem Comic aufsähe, sie jemanden dort stehen sehen würde. Doch als sie dann aufsah, war da niemand.


Sie stand auf, drehte sich um die eigene Achse und ließ den Blick über die Sträucher schweifen. Dann schüttelte sie den Kopf. Sie musste sich das eingebildet haben. Cornelia würde sagen, dass sie zu viele Reize zuließ. Lauter unpraktische Gewühle (Cornelia nannte Gefühle, die sie missbilligte, weil sie schlecht für Cato waren, „Gewühle“). Und Cornelia hatte für schlechte Gewühle natürlich eine Lösung parat.
»Weg damit ins …?«
(Lustloser Blick von Cato.)
»Ins K…?«
(Lustloser Blick.)
»Ins Kä…?«
(Lustloser Blick.)
»Ins Kämm…?«
»Campingklo.«
»Ins Kämmerchen, genau.«

 

Aber ob es sich nun um Gewühle handelte oder nicht, als Cato sich wieder hinsetzte, fühlte sie wieder diesen Blick auf sich. Sie versuchte, ihn zu ignorieren, bis sie es nicht mehr aushielt und mit einem Ruck aufsah.
Niemand.


Cato seufzte. Langsam nervte es. Und was sie vor allem nervte: Der kleine Funken Hoffnung, der ganz plötzlich einfach so in ihrem Herzen aufflammte, aus dem Nichts. Als hätte er jahrelang mucksmäuschenstill in seinem Versteck auf einen Moment gelauert, in dem er zuschlagen konnte.
Mama, dachte sie.
Gleich darauf hätte sie sich am liebsten vor den Kopf geschlagen.
»Dummes kleines Kind«, murmelte sie.
Ins  K …
»Lass mich bloß in Ruhe!«
Sie senkte ihren Blick wieder auf ihren Comic, doch sie hatte auf einmal überhaupt keine Lust mehr zu lesen. Und als es dann auch noch anfing zu regnen, stopfte sie alles in den Rucksack und kehrte schlecht gelaunt nach Hause zurück.

Zu Hause roch es nach Putzmittel, doch Cornelia schien zum Glück schon weg zu sein. Es war mucksmäuschenstill im Haus. Cato lief durch den Flur und warf ihren Rucksack in die Ecke, da hörte sie aus dem Wohnzimmer einen vereinzelten Klavierton.
War Cornelia doch noch da und wienerte die Tasten?


Cato pirschte sich geräuschlos durch den Flur an und spähte durch den Türspalt ins Wohnzimmer.
Am Flügel saß ihr Vater. Von hinten sah er alt und unbeholfen aus: sein großer, dünner Oberkörper über die Tasten gebeugt, seine langen Beine ungeschickt darunter gefaltet. Sein Zeigefinger ruhte noch immer auf der einen Taste. Er sah zum linken Fenster hinüber und Cato konnte seinen Blick sehen. Der war zwar sehr weit weg, aber nicht so leer wie sonst. Für einen kurzen Moment schien es Cato, als sähe er draußen denselben wunderschönen Herbst wie sie. Als habe er sich aus seinem vernagelten Fort nach draußen geschlichen und kurz tief eingeatmet. Ein Schauer schüttelte ihn, Cato sah ihn über seinen Rücken laufen.
Dann drückte er noch eine Taste ein. Und noch eine dritte. Er nahm seine linke Hand dazu und begann zu spielen. Langsam, leise, getragen.


Der Flügel wurde nie benutzt. Er stand bloß da und fing Staub und wurde mit der Zeit immer hässlicher. Der schwarze Lack war grau gesprenkelt, als hätte jemand graue Farbe darüber gesprüht. Das kam sicher von Cornelias Putzmittel, dachte Cato.
Cato hatte ihren Vater in ihrem ganzen Leben erst ein paarmal spielen hören. Diese paar Male hatte er immer dasselbe gespielt, und auch jetzt erkannte sie die Melodie sofort. Sie hatte sie nie irgendwo anders gehört, sondern kannte sie nur von ihrem Vater an diesem Flügel.


Atemlos lauschte sie, während sie zusah, wie ihr Vater sich auf dem Klavierschemel wie ein träger Riese hin- und herwiegte, seine langen, schlanken Finger zierlich wie Tänzer auf den Tasten.
Plötzlich schrak er auf, und der Zauber war gebrochen. Er zog die Hände blitzartig zurück, als ob die Tasten plötzlich glühten. Er sprang auf und lief zu der Tür, von der aus Cato ihn beobachtet hatte, doch er sah sie kaum und rannte sie fast über den Haufen.
»Ach, Cato, wie war’s in der Schule?«
»Ich habe sonntags keine Schule, und erst recht nicht in den Herbstferien.«
Ihr Vater war inzwischen schon mitten auf der Treppe. Er drehte sich um und sah sie an.
»Ach ja, Sonntag«, sagte er.
Dann ging er die Treppe hinauf und verschwand in seinem Zimmer.
Cato starrte noch eine Weile ins leere Treppenhaus und ging dann ins Wohnzimmer. Der Flügel stand mitten im Zimmer, prunkvoll wie ein Denkmal. Es war ein schöner Anblick, doch Cato verstand nicht, weshalb er dort stand, mitten im Wohnzimmer. Er schien in ein anderes Haus und ein anderes Leben zu gehören.


Manchmal hatte Cato das Gefühl, in einem fremden Haus zwischen ihr unbekannten Gegenständen aufzuwachsen. Während andere Familien Fotos an der Wand und Nippes auf der Fensterbank hatten, war das Haus von Cato und ihrem Vater wie der Ausstellungsraum eines Möbelladens. Alle Erinnerungsstücke schienen systematisch daraus entfernt worden zu sein.
Sie setzte sich an den Flügel und versuchte, die Melodie nachzuspielen, die ihr Vater gespielt hatte. Es klappte ganz gut, schließlich kannte sie sie auswendig, sodass ihre Finger bald die richtigen Tasten fanden. Dann fiel ihr Blick auf einen Zettel, der auf dem Flügel lag. Es war eine Visitenkarte auf knallgelbem Papier. In pinken Buchstaben stand darauf:


Frau Kanos Kino
Filme, die nirgends laufen, aber die Sie
schon immer sehen wollten


Auf der Rückseite stand eine Adresse, die Cato kannte. Es war die des früheren LUX, eines alten Kinos, das schon seit Jahren leer stand. Hatte ihr Vater diese Visitenkarte bekommen? Und was für Filme waren das wohl, die „Filme, die nirgends laufen“?
Die Haustür ging auf und Cornelia kam summend herein. Cato steckte die Visitenkarte in ihre Hosentasche und trat in den Flur, um schnell in ihr Zimmer zu gehen und so wenig wie möglich mit Cornelia zu tun zu haben.
»Ach, der Nichtsnutz ist auch wieder zu Hause«, sagte Cornelia, als sie Cato sah. Sie stand mit zwei Einkaufstaschen an der Tür und lächelte Cato lieblich an.


Diese sagte nichts, lächelte lieblich zurück, zeigte ihr jedoch mit der Hand in der Hosentasche den Mittelfinger. Dann sauste sie die Treppe hinauf in ihr Zimmer.